Die Jungfrau im Lavendel
Ihrer Mutter, Virginia.«
»Ich denke, sie ist in München.«
»Wieso in München? Warum sollte sie in München sein?«
»Aber Sie haben doch gestern gesagt …«
»Ich habe gesagt, ich komme aus München. Ich habe nie gesagt, Ihre Mutter ist in München.«
»Nein?« fragte sie verwundert.
Sie wußte längst, daß sie etwas ganz Wahnsinniges getan hatte, aber seltsamerweise verspürte sie keine Angst. Nicht vor ihm. Er war freundlich, geradezu liebevoll, fragte immer wieder, wie sie sich fühle, ob sie durstig sei oder hungrig. Sie trank den Kaffee, den er brachte, besah sich interessiert die Gegend. Ein fremdes Land. Auf einmal war sie in einem fremden Land, allein mit einem fremden Mann. Sie befand sich wie in einem Traum. Selbstverständlich konnte sie jederzeit aussteigen aus diesem Wagen, sie hatte zwar kein Geld, auch keinen Paß, aber der Gedanke, in Italien zu sein, beruhigte sie sehr. In Italien war Teresa. Sie kannte die Adresse. Teresas Familie war eine angesehene Familie. Sie konnte zu jedem Carabiniere gehen und ihn bitten, bei Teresas Familie anzurufen. Und dann würde Teresa kommen. Oder einer ihrer großartigen Brüder. Auf diese Weise konnte ihr gar nichts geschehen.
Ebenso genau wußte sie, daß sie ins Kloster nicht zurück konnte. Sie war davongelaufen, noch dazu mit einem Mann, man würde sie nicht wieder aufnehmen. Ihr Vater würde empört sein und sich von ihr abwenden.
Nun gut, sollte er doch. Er wollte ja, daß sie für immer in diesem Kloster blieb, er und diese Frau, die sich nie um sie gekümmert hatte.
Und überhaupt ist mein Vater gar nicht mein Vater.
Aber ich habe jetzt eine Mutter. Eine richtige Mutter. Es ist wie ein Wunder: ich habe eine Mutter.
Und mein Vater, der nicht mein Vater ist, hat mich belogen.
Ein ganzes Leben lang belogen.
Warum nur? Warum?
Es war sehr viel, was an diesem Tage auf sie einstürmte, und was sie so schnell in ihrem verwirrten Kopf gar nicht verarbeiten konnte. Dabei blieb ja auch immer das beängstigende Gefühl, daß dieser fremde Mann, mit dem sie hier durch die Welt fuhr, auch ein Lügner war. Hatte er gestern nicht gelogen? Das habe er tun müssen, erklärte er ihr, gleich nachdem sie sich getroffen hatten, denn wie hätte er es sonst anstellen können, mit ihr zu reden?
Gelogen hatte sie schließlich auch. Ohne einen Grund dafür zu haben. Er hatte einen Grund.
Darum mußte nicht alles, was er sagte, Lüge sein. Warum sollte er eine Mutter erfinden, eine Mutter von den Toten auferstehen lassen, wenn es sie nicht wirklich gab. Was hatte er denn davon? Es klang alles so überzeugend, was er ihr berichtet hatte. Und die Bilder hatte er ihr auch gezeigt.
Nur – wo war sie jetzt? Sprachen die nicht französisch? Ein greller Blitz zackte über den schwarzen Himmel, Virginia sah die Umrisse eines großen steinernen Hauses und das Gesicht einer Frau. War das seine Schwester? Deren Paß er benutzt hatte, um sie zu holen?
Der Donner folgte rasch, der Widerhall rollte lange in den Bergen.
Virginia war zusammengezuckt, ein wimmernder Laut, wie von einem ängstlichen Tier, kam über ihre Lippen. Danio legte den Arm um die schmalen Schultern.
»Komm herein, poveretta. Du mußt keine Angst haben.«
»Ich platze vor Neugier«, sagte Dido. »Komm herein, ja. Es geht gleich los hier draußen. Willst du den Wagen nicht lieber unter das Scheunendach fahren?«
»Nicht einen Meter fahre ich mehr. Es ist mir egal, ob der Wagen in die Luft fliegt. Nach dieser Fahrt hasse ich ihn.«
»Es ist nicht Anitas Wagen.«
»Der steht in Milano am Flughafen. Das ist ein Leihwagen. Aber ich wollte es nicht riskieren, die Wagen wieder auszutauschen, es hätte mich auch zuviel Zeit gekostet.«
»Gib mir den Schlüssel, ich werde ihn um die Ecke fahren.«
»Der Schlüssel steckt.«
Als Dido ins Haus kam, zog Danio seine verdrückte Jacke aus, dann ließ er sich in einen Sessel fallen, streckte die Füße weit von sich, nahm Didos halbvolles Glas und leerte es in einem Zug. Das Mädchen stand verloren mitten im Raum und blickte scheu um sich.
»Gib ihr was zu trinken. Gib ihr Wein. Dann kann sie um so besser schlafen.«
»Wo soll sie schlafen? Hier bei mir?«
»Dumme Frage. Wo sonst? Was denkst du, wozu ich sie hergebracht habe?«
»Und was denkt sie eigentlich, wo sie hier ist?«
Danio grinste, er sah wieder besser aus.
»Bei meiner Schwester.«
Diese Worte waren nun auch zu Virginia gedrungen, die froh war, endlich etwas zu verstehen.
»Mademoiselle«,
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