Die Jungfrau im Lavendel
und daß sie und ihre Familie sich für den Verbleib des Mädchens nicht im geringsten interessierten. Das erschien ihr dann ein wenig hart und mißverständlich, sie überlegte eine Weile und entschloß sich dann, dieser Oberin die Wahrheit mitzuteilen. Das Mädchen stamme zwar von der ersten Frau ihres Mannes, doch sei er nicht der Vater gewesen. Die Mutter habe ihn und das kurz zuvor geborene Kind ohne weitere Erklärung verlassen.
Unter diesen Umständen, so werden Sie zugeben, schrieb sie, hat mein armer Mann mehr als seine Christenpflicht diesem Kind gegenüber erfüllt. Erst besuchte es eine teure Privatschule, dann kam die Ausbildung in Ihrem bewährten Institut, hochverehrte Frau Oberin, aber nun sehe ich, soweit es mich und meine Familie betrifft, wirklich keinen Anlaß mehr, weiter für dieses Mädchen, das mir überdies ganz fremd ist, zu sorgen. Wenn sie sich nun, wie es aussieht, für ein eigenes Leben entschieden hat, besteht wohl kein Grund, einzugreifen, alt genug ist sie ja wohl. Was an Kosten noch anfällt, wollen Sie mir bitte mitteilen, das wird selbstverständlich noch erledigt.
Dieser Brief war nun, falls der Oberin so ein Ausdruck eingefallen wäre, ein Hammer.
Der Herr Stettenburg-von Maray war nicht der Vater Virginias, und das erklärte auch, warum er sich so wenig um sie gekümmert hatte, und erklärte gleichzeitig, warum sich seine Frau, eben die, die diesen Brief geschrieben hatte, niemals hatte blicken lassen …
Was für scheußliche Verhältnisse! So etwas wie Mitleid mit dem verlorengegangenen Mädchen wollte die Oberin überkommen. Oder besser mit dem verlorenen Mädchen, denn so mußte man sie wohl inzwischen bezeichnen, denn Mechthilds Brief war nicht der einzige Brief, der die Oberin erreichte. Einige Zeit später war ein Brief von Virginia eingetroffen, und zwar aus Mailand. Ein sehr kurzer Brief. Sie bat darin vielmals um Vergebung für ihr plötzliches Verschwinden, sie habe triftige Gründe dafür gehabt, und sie hoffe, es ergebe sich die Möglichkeit, sie später einmal darzulegen. Es gehe ihr gut und sie befinde sich in bester Obhut.
Von der totgeglaubten Mutter, deren Spur sie gefolgt war, schrieb Virginia nichts. Das konnte sie nicht. Denn auch zwei Wochen nachdem sie das Kloster verlassen hatte, war sie dieser Mutter nicht begegnet, wußte immer noch nicht, ob es sie wirklich gab. Sie hatte durchaus Grund anzunehmen, daß Danio sie belogen hatte. Nur spielte es in diesem seltsamen, in diesem weltverlorenen Traumleben, das Virginia zur Zeit führte, so gut wie keine Rolle.
Provence
Zwischen den Bergen der Haute Provence, versteckt in Wäldern und Büschen, beim stetigen Gesang der Zikaden, eingehüllt in den Duft des Lavendels und des Thymians, beschützt von der alten, verwitterten, doch immer noch aus festem Stein gefügten Ferme entwickelte sich so etwas wie ein Ferienidyll. Jedenfalls soweit es Virginia betraf. Sie lebte zunächst wie in Trance, dann wie im Traum, sie bestaunte eine wundersame, fremde Welt, und sie, die gar nichts von der Welt kannte, empfand alles, was um sie geschah, wie ein Märchen. Sie begriff nie, wo sie eigentlich war und warum sie hier war. Auf ihre Fragen, die sie manchmal stellte, nachdem ihr Kopf wieder klarer wurde und die Sprachschwierigkeiten nicht mehr unüberwindlich, bekam sie nie eine Antwort, mit der sich etwas anfangen ließ.
Man war freundlich zu ihr, die schöne fremde Frau, dieser breitschultrige kräftige Mann mit dem kühnen Gesicht, und vor allem Chariot, der viel mit ihr zusammen war – nur der Mann, der sie hergebracht hatte, Herr Wallstein oder wie er hieß, ihn bekam sie zunächst nicht zu Gesicht. Natürlich erinnerte Virginia sich nach und nach wieder sehr gut an alles, was er ihr erzählt hatte: Es gab eine Mutter, die auf sie wartete, und ihr Vater war nicht ihr Vater.
Und sie war einfach mit einem wildfremden Mann auf und davon gefahren. Das kam ihr selbst so ungeheuerlich vor, geradezu unglaubwürdig, und daher paßte es auch wiederum sehr gut in das weltverlorene Traumleben, das sie inmitten all dieser Schönheit führte. Ein Leben in ungebundener Freiheit dazu. Es gab keine Regeln, keine festgesetzten Stunden, in denen man dies oder das tun durfte, keinerlei Vorschriften für Kommen und Gehen, für Kleidung und Verhalten. Sie hatte von Dido einen bunten Leinenrock bekommen, ein Paar Jeans, dazu ein paar Blusen und leichte Pullis, irgend etwas davon zog sie an, leichte Sandalen von Dido, und so
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