Die Jungfrau im Lavendel
»Ihr hättet gestern Schwester Serena von diesem Zusammentreffen und der heutigen Verabredung berichten müssen.«
»Das konnten wir doch nicht«, sagte Barbara.
»Das wäre doch gepetzt gewesen«, fügte Sabine hinzu. Nun wurde die Oberin ärgerlich.
»Gepetzt! Seid ihr kleine Kinder oder erwachsene Menschen? Was ist, wenn Virginia einem bösen Menschen in die Hände gefallen ist? Der sie verschleppt oder ihr etwas antut?«
Barbara begann zu weinen, Sabine gab ihr einen Schubs. »So war der nicht«, sagte sie bestimmt. »Ich glaube, sie ist freiwillig mitgegangen.«
»Freiwillig, gewiß«, sagte die Oberin. »Wenn sie sich gewehrt hätte, mit ihm zu gehen oder in sein Auto zu steigen, würde das wohl Aufsehen erregt haben. Aber ein junges Mädchen kann nicht wissen, was ein Mann vorhat, mit dem es – freiwillig, wie du sagtest – mitgeht. Oder?«
»Man kann sich verschiedenes denken«, murmelte Sabine. »Vielleicht … vielleicht ist er verliebt in sie. So etwas gibt es doch.«
»Aha. So etwas gibt es. Und sie?«
»Sie kann ja auch in ihn verliebt sein«, sagte Sabine tapfer, worauf ihre Schwester sie auf den Fuß trat.
Viel mehr kam bei diesem Verhör nicht heraus, erkannte die Oberin. Eine peinliche Geschichte. Sie schob eine Akte auf ihrem Schreibtisch zornig zur Seite, und es bedurfte ihrer ganzen Selbstdisziplin, das Ding nicht einer von den vieren, die hier vor ihr standen, an den Kopf zu werfen.
Man mußte wohl oder übel die Gendarmerie benachrichtigen. Die würden sich eins grinsen, das wußte sie im voraus. Und würden wahrscheinlich das gleiche sagen, was Sabine eben gesagt hatte. Eine Liebesgeschichte, Ehrwürdige Mutter. So etwas kommt doch vor. »Geht auf euer Zimmer«, befahl sie den Zwillingen.
Die sahen sich stumm an. Ohne Abendbrot, und das, nachdem sie so ausgiebig geschwommen waren. Und die Räder hinaufgeschoben hatten.
Die Oberin blickte kurz zu der Schulschwester und zu der Hausschwester auf.
»Ich möchte Schwester Borromea sprechen. Sonst wird zunächst von der Sache nicht gesprochen. Wenn Virginia in einer Stunde nicht da ist, werde ich die Gendarmerie benachrichtigen. Wie ich die kenne, werden sie sowieso keinen Fuß rühren. Was Virginias Vater betrifft …« Sie trommelte mit dem Finger auf die Schreibtischplatte. »Nun, wir werden bis morgen warten. Vielleicht kommt sie ja wieder.«
»Ich werde dafür beten«, murmelte Schwester Serena.
Bei der Gendarmerie in Gollingen war man leider nicht sehr kooperativ, das hatte die Oberin richtig vorausgesehen.
»Was soll das sein?« fragte der Wachhabende. »Eine Vermißtenanzeige? Eine Anzeige wegen Entführung oder was? Wenn das Mädchen erst seit zwei Stunden verschwunden ist, kann man weder in dem einen noch in dem anderen Fall tätig werden.«
»Das Mädchen ist seit drei Uhr nachmittags verschwunden«, sagte die Oberin scharf.
Schließlich ließen sie sich gnädig herab, einen Rundgang durch die Lokale zu machen und in den drei Hotels und verschiedenen Pensionen von Gollingen nachzufragen, ob dort ein Mann wohnte oder gewohnt hatte, auf den die Beschreibung paßte.
Das war alles, was an diesem Abend geschah. Am nächsten Tag sah alles schon bedrohlicher aus. Im Kloster wußten nun alle Bescheid, der gute Pater Vitus betete in der Kirche für das verlorene Schaf, und Anna-Luisa verkündete tief befriedigt: »Es war bestimmt ein Lustmörder. Er hat sie vergewaltigt und dann zerstückelt. Wir werden sie nie wiederfinden.«
Worauf etwas geschah, was in den Annalen des Klosters noch nicht verzeichnet war. Sabine holte aus und schmierte ihr eine. »Und denk nur nicht, daß ich das bereue und jemals beichten werde.«
»Und wenn du jetzt ein Geplärr machst«, fügte Barbara hinzu, »kannst du von mir auch noch eine fangen.«
Komisch, darüber waren sich die Zwillinge einig, daß dieser Italiener aus München kein böser Mensch war. Das sagten sie auch bei der Polizei aus. Und auf die Frage, ob die beiden wie ein Liebespaar gewirkt hätten, schüttelten sie die Köpfe. Nein, das auch nicht.
»Was soll's denn dann gewesen sein?« schnauzte der Chef des Gendarmeriepostens sie an, denn bei dem war die Affäre nun gelandet.
»Ein Freund von Virginias Vater. Beziehungsweise der Sohn des Freundes. Wie er gesagt hat. Und daß er mit Virginias Vater gekommen ist.«
»Dös is a Schmarrn. Dann hätte Ihre Freundin das ja bestätigen müssen, net? Und das hat's net getan, wie Sie selbst ausgesagt haben.«
Immerhin konnte der
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