Die Jungfrau im Lavendel
Alten im Dorf, wußten, woher sie kam. Chariot brachte Virginia Blumen und Pflanzen aus den Bergen mit, und als es ihr besser ging, begleitete sie ihn ein Stück in den Wald hinauf, er zeigte ihr, wo der wilde Lavendel wuchs, und wenn sie kräftiger geworden sei, sagte er, dann müsse sie ihn einmal zu der alten Römerruine oben auf dem Berg begleiten.
»Außer mir«, erklärte Chariot stolz, »kennt die keiner.« Virginia lächelte, nickte und sagte: »Oh, yes.«
Sie war wie ein vom Himmel gefallenes Kind, das mitten in dieser seltsamen, so schönen Welt gelandet war, und da keiner ihr etwas Böses tat, gab es auch keinen Anlaß zur Furcht. Die hatte sie eigentlich nur, wenn sie an das Vergangene dachte. Auch wenn es noch nicht so lange vergangen war, kam es ihr vor, als lägen Jahre zwischen der verzauberten Gegenwart und ihrem Leben im Kloster.
Was würden sie bloß dort von ihr denken? Schwester Borromea würde traurig sein. Ach, wenn sie das nur alles hier sehen könnte, sicher würde sie den ganzen Tag irgendwo sitzen und malen. Eines Tages überraschte sie Dido damit, daß sie unbedingt einen Brief schreiben müsse.
»Eine Brief? Wohin? An wen?«
Virginia gab sich große Mühe, sich verständlich zu machen, und Alain, der dazugekommen war, sagte nach einer Weile: »Sie hat ein schlechtes Gewissen. Du mußt sie diesen Brief wohl schreiben lassen.«
»Wie stellst du dir das vor? Das geht doch nicht.«
»Im Gegenteil. Ich halte das für ganz richtig. Sie soll kurz schreiben, nur, daß es ihr gutgeht und daß man sich keine Sorgen um sie zu machen braucht. Alles andere können die sich dann dort dazu denken. Falls Madame Anita eines Tages wieder auftaucht, kann sie sich dann die Fortsetzung dieses Briefes überlegen.«
»Und von wo soll der Brief abgeschickt werden, bitte?«
»Natürlich nicht von hier. Am besten über der Grenze.« Virginia, die ihnen aufmerksam zugehört hatte und von dem schnellen Wortwechsel kaum etwas mitbekam, nur soviel, daß Alain ihr zustimmte, war an einem Namen hängengeblieben, den sie jetzt schon oft gehört hatte. »Madame Anita«, fragte sie, »c'est ma mère?«
Dido blickte sie überrascht an.
»Oui, c'est votre mère.«
Virginia nickte und schwieg. Noch einmal zu fragen, wo sie denn eigentlich sei, die ihr verheißene Mutter, erübrigte sich. Sie war nicht da. Nicht als sie kam, nicht jetzt, vermutlich nie. Auch Herr Wallstein war nicht da, der Danio hieß, wie sie inzwischen wußte. Irgendein Geheimnis umgab das ganze Geschehen, aber sie sah keinen Weg, es zu verstehen. Sie schrieb den Brief genauso, wie Dido ihr gesagt hatte, und Alain, der ein wenig deutsch lesen konnte, studierte die paar Zeilen sorgsam.
»Ich denke, so geht es.«
Virginia kam auf noch eine Idee.
»Ich habe eine Freundin in Italien. Darf ich ihr auch schreiben?«
Dido schüttelte den Kopf.
»Nein. Das ist alles. Mehr wird nicht geschrieben.«
Bin ich eigentlich eine Gefangene, dachte Virginia, und sie dachte so etwas zum erstenmal. Unwillkürlich ging ihr Blick zur Tür.
Wenn ich einfach aufstehe und weggehe, was würde sie dann tun? Sie sah Dido an, und auch zum erstenmal war nicht nur Verwirrung in ihrem Blick, sondern ein Funke Zorn. Widerstand. Dido merkte es wohl, Ärger stieg in ihr auf, doch Alain legte den Arm um Virginias Schulter.
»Du kannst deiner Freundin später schreiben, ma petite. Jetzt wollen wir erst einmal diesen Brief fortbringen.«
»Fortbringen?« fragte Virginia verwirrt.
»Daß wir keinen Briefkasten vor dem Haus haben, wird Ihnen ja schon aufgefallen sein«, fuhr Dido sie an.
Doch, das war ihr alles aufgefallen. Keinen Briefkasten, keinen Laden, keinen Menschen, außer Chariot. Die Verbindung zur übrigen Welt schien nur in Didos kleinem Auto möglich. Aber Chariot, er kam zu Fuß, wo kam er denn her?
»Ich möchte gern wissen, wo ich bin«, sagte Virginia trotzig. Dido und Alain schwiegen und sahen sich an. Das mußte eines Tages ja kommen, wenn sie einigermaßen wieder bei sich war.
»Wir sind nicht in Italien, nicht wahr? Sind wir in Frankreich?«
Herr Wallstein war mit ihr nach Italien gefahren, das wußte sie noch sehr genau.
»Wir sind Franzosen«, sagte Alain ruhig. »Die gibt es auch in Italien.«
Virginia nickte. Das leuchtete ihr ein. Teresa war Italienerin und war in Österreich in die Schule gegangen, und … was für Unsinn dachte sie da? Teresa war Österreicherin, nur ihre Mutter war Italienerin. Auf einmal merkte sie, daß sie Teresas
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