Die Jungfrau im Lavendel
Adresse vergessen hatte. Das war schon sehr seltsam.
Dido hatte inzwischen einen Entschluß gefaßt. Es genügte nicht, den Brief einfach über die Grenze zur Post zu geben, das war zu nah. Sie würde nach Milano fahren, morgen. Einen Absender würde der Brief nicht haben.
Virginia kam auf ihre Fragen nicht zurück. Es war einfach zu schwierig, sie konnte nicht begreifen, was mit ihr geschehen war.
Am nächsten Tag, ehe sie fuhr, sagte Dido freundlich: »Ich werde dir etwas mitbringen aus der Stadt.« Sie blickte auf Virginias Füße. »Ein Paar hübsche neue Sandalen, ja? Diese alten von mir sind schon ziemlich abgelatscht.«
Virginia hatte nicht ganz verstanden, was sie sagte, Dido wiederholte langsam ihre Worte und fügte hinzu: »Oder hast du einen bestimmten Wunsch?«
Es war schwer zu erklären, was sie sich wünschte.
»Einen Zeichenblock.« Wie hieß das nur auf französisch?
»Zeichenstifte. Wasserfarben …« Sie hielt einen imaginären Block hoch, machte Bewegungen des Zeichnens.
»Was meint sie?« fragte Dido.
»Sie will malen«, erklärte Alain. »Es scheint, du hast eine kleine Künstlerin bei dir aufgenommen.«
Dido lachte. »Ach so. Na, so etwas werde ich schon auftreiben.«
»Es ist nur«, meinte Virginia schüchtern, »ich habe kein Geld.« Sie lief eilig in ihr Zimmer und kam mit ihrem Täschchen wieder und holte die Schillinge heraus, die sich noch darin befanden. »Das ist alles, was ich habe. Und es gilt ja hier nicht.«
»Nein, aber ich werde schon etwas für dich finden.« Es fiel Dido gar nicht auf, daß sie das Mädchen auf einmal duzte. Dann fuhr sie weg, und Virginia war einen ganzen Tag mit Alain auf der Ferme allein. Nachdem Chariot auf seinem nun täglichen Besuch vorbeigekommen war, ging Alain wie täglich in den Wald und zum Maquis hinüber. Er untersuchte alles sorgfältig auf Spuren, sah nach seinem Motorrad, umrundete dann das Gelände. Als wenn man sich am Ende der Welt befände, dachte er. Das ist wirklich eine verhexte Gegend. Ich muß fort. Denn irgendwann wird etwas passieren.
Er beobachtete Virginia eine Weile, die ein Stück vom Haus entfernt auf der Wiese saß und mit der Katze spielte. Er ging zu ihr, setzte sich neben sie ins Gras. Das hätte er in den ersten Tagen nicht gewagt, sich einfach im hellen Sonnenschein auf die Wiese zu setzen. Ich muß weg, dachte er wieder, ich werde leichtsinnig. Ich bin es nie gewesen, all die Jahre nicht. Wenn sie mich schnappen, komme ich nie mehr frei.
Er legte den Arm um Virginias Schultern.
»How ist Cattie?«
Manchmal sprach er englisch mit ihr, das sie besser verstand. »Isn't she sweet?« Virginia blickte mit einem so strahlenden Lächeln zu ihm auf, daß es ihn rührte. »As sweet as you are, dear.«
Er zog sie ein wenig zu sich heran, faßte sie fester und küßte sie, erst auf die Wange, dann auf den Mund.
Virginia wehrte sich nicht, aber sie blickte ihn so fassungslos an, als er sie losließ, daß er lachte und schnell auf die Füße sprang.
»Ich werde uns jetzt das Essen wärmen, das Dido vorbereitet hat«, sagte er, wieder auf französisch, wandte sich und ging ins Haus. Das fehlte noch, daß er das Klosterfräulein verführte, als wenn er nicht schon genug Sorgen am Hals hatte. Ob sie wohl viel dagegen hätte?
Aber er war froh, als Dido zurückkam.
Die Katze hatte Chariot eines Tages mitgebracht, und es hätte kaum etwas geben können, worüber Virginia sich mehr gefreut hätte. Das wiederum freute Chariot. Dido hatte keine Einwände, nur mußte Virginia versprechen, aufzupassen, daß die Katze sich nicht an den Hühnern vergriff. Doch die Katze wußte das sowieso. Im Dorf hatten sie auch Hühner, und nachdem sie zweimal schmerzhaft von einem Stein getroffen worden war, hatte die Katze begriffen, daß sie zwar alle Vögel fressen durfte, die sie erwischte, nur keine Hühner.
Dido hatte Danio einige Male getroffen, in Cannes oder in Grasse, er hatte nichts Neues zu berichten. Niemand fragte nach ihm, er hatte offenbar wirklich keine Spur zurückgelassen.
»Irgend etwas stimmt da nicht«, sagte Dido. »Sie werden doch Virginias Vater davon unterrichtet haben, daß sie verschwunden ist. Und er hat doch Anitas Adresse. Meinst du nicht, daß er einen Verdacht haben müßte?«
»Vielleicht. Aber es wird ihm egal sein. Kann sein, er ist ganz froh, die Kleine los zu sein.«
»Was immer geschieht, Danio, du darfst zu keinem Menschen von der Ferme sprechen.«
»Aber ich weiß es ja, du hast es mir nun oft
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