Die Jungfrau im Lavendel
als sie zu Bett gingen, »ich kann mich selber nicht verstehen, daß mir das nicht längst eingefallen ist.«
»Schatzele«, sagte der Oberlandesgerichtspräsident i.R. Ludwig Landau, »es ist ja nicht so, daß du die ganzen Jahr gar nix zum tun gehabt hättest. Der Ferdinand hat das Mädel vor drei Jahren zum letztenmal besucht, net wahr? Hast seitdem was von ihr gehört? Hast auch nur an sie gedacht? Naa, hast net.«
»Nächste Woche fahr ich. Schau sie mir mal an.«
Doch zunächst mußte Landau seinen Freund im Krankenhaus besuchen, gleich darauf erfolgte der Tod des Oberst, die Beisetzung im Ruhrgebiet, an der Juschi natürlich teilnahm, das alles ging ihnen nahe, man verlor nicht einen guten, soweit es Landau betraf, fast lebenslangen Freund, ohne daß es einen bewegte.
Und dann war da der Brief. Mein liebes Kind …
Ohne diesen Brief hätte Landau seinen Freund ja überhaupt nicht mehr lebend wiedergesehen. Er hatte Juschi den Brief zwar gleich gezeigt, und sie hatten darüber gerätselt, was er eigentlich bedeuten sollte, waren aber übereingekommen, zu Mechthild Stettenburg nicht darüber zu sprechen.
»Denn wenn der Ferdl gewollt hätte, daß sie den Brief bekommt, dann hätt er ja nicht darauf bestanden, mit mir allein darüber zu sprechen. Ihn mir anzuvertrauen, gewissermaßen. Und wenn du's genau nimmst, war der Brief der einzige Grund, warum er nach mir hat telefonieren lassen.«
Als sie wieder daheim waren in München, nach der Beerdigung, studierten sie den Brief noch einmal genau.
»Er muß von Anita kommen«, meinte Juschi. »Aber wieso hatte ihn der Ferdl in der Tasche?«
»Er hat nie im Leben mehr etwas von der Anita gehört. Wenn ich ihn mal nach ihr gefragt hab, ist er gleich hochgegangen. Also hab ich's bleiben lassen. Ich kenn der Anita ihre Schrift nicht, aber nehmen wir an, er ist von ihr geschrieben, dann ist er an Virginia gerichtet, und frag mich mal, warum der Ferdl den Brief in der Tasche hatte.«
»Weil er ihn ihr nicht gegeben hat«, folgerte Juschi hellsichtig.
»Oder er hat ihn von Virginia bekommen, als er dort war. Warum hat er uns den Brief nicht gezeigt, als er hier war? Und uns gesagt, was es damit für eine Bewandtnis hat? Und warum hat er überhaupt nicht erzählt, daß er mit Anita wieder Verbindung hat?«
»Sixt es, das ist das Dumme, wenn einer tot ist. Du kannst ihn nichts mehr fragen. Nichts! Überhaupt nichts!«
»Meine kluge Juschi«, spottete Ludwig freundlich. »Daß du da draufgekommen bist!«
»Das ist nicht zum Lachen, Ludwig. Es sollte uns vielmehr ganz, ganz ernsthaft daran mahnen, uns alles zu sagen, was wir uns zu sagen haben.«
»Gutes und Böses?«
»Gutes und Böses. Und auch zu fragen, was man fragen möchte.«
»Also was dich betrifft, so habe ich da keinerlei Bedenken. Du hast weder mit dem Sagen noch mit dem Fragen je große Hemmungen gehabt. Wenn ich amal tot bin, also ich kann mir net vorstellen, worum's dir da leid tun sollte, was du nicht gesagt oder nicht gefragt hättest.«
»Geh, red net so einen Schmarrn. Darüber spaßt man net.«
»Worüber spaßt man net?«
»Übers Sterben. Ich verbiete dir, zu sterben.«
»Du hast grad gesehen, wie schnell es gehen kann. Der Ferdl und ich, wir sind der gleiche Jahrgang.«
Da begann Juschi zu schlucken, warf ihrem Mann beide Arme um den Hals und rief laut: »Ich verbiete es dir, hast es gehört?«
»Ja, ja, schon gut, Schatzele. Ich werd's mir merken. Ich tu's nicht, ohne dich vorher zu fragen.« Er klopfte ihr beruhigend auf den Rücken, streichelte ihr Haar, und auch er hatte Tränen in den Augen, nicht wegen seines eigenen, irgendwann bevorstehenden Todes, sondern um seinen Freund Ferdinand. Das war ihm doch sehr nahe gegangen. Sie hatten sich ohnedies so selten gesehen, und dann saß er mal einen Abend hier, und vier Tage später war er tot. Und nun blieb nichts mehr zu sagen und zu fragen, da hatte Juschi schon recht.
»Wir wollten über den Brief sprechen«, mahnte er.
Juschi putzte sich die Nase, setzte die Brille, die ihr runtergerutscht war, wieder auf, und nahm den Brief zur Hand. Diesmal las sie ihn laut vor, obwohl sie ihn bald auswendig kannte, so oft hatte sie ihn nun schon gelesen.
›Mein liebes Kind, Du wirst Dich wundern, nach so langer Zeit eine Nachricht von Deiner Mutter zu erhalten. Du bist nun achtzehn Jahre alt geworden und hast in all diesen Jahren Deine Mutter nie gesehen und nichts von ihr gehört. Es ist schwer, in einem Brief zu erklären, warum das so
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