Die Jury
doch Lucien fürchtete weitere Probleme, falls Ethel ihre ursprüngliche Aussage widerrufen sollte. Deshalb behielt sie ihren Job in der Wilbanks-Praxis.
Lucien führte die Kanzlei seiner Familie ganz bewußt in den Ruin, denn er hatte nie beabsichtigt, in die Fußstapfen seiner Vorfahren zu treten. Er lehnte es ab, sich mit Zivilrecht zu befassen und strebte eine Karriere als Strafverteidiger an. Er wünschte sich die häßlichen Fälle – Mord, Vergewaltigung, Kindesmißhandlung –, die niemand sonst wollte, und sehnte sich danach, für die Bürgerrechte zu kämpfen, ein radikaler Anwalt zu werden, der für die Unterprivilegierten eintrat und sich dadurch großen Ruhm erwarb. Darauf kam es ihm in erster Linie an: auf Ruhm.
Bald ließ er sich einen Bart wachsen und von seiner Frau scheiden. Der Kirchenaustritt folgte. Er verkaufte seinen Anteil am Country Club, beantragte Mitgliedschaft in sozialen Organisationen, gab den Sitz im Aufsichtsrat der Bank auf und wurde zur Geißel von Clanton. Die Schulen verklagte er wegen der Rassentrennung, den Gouverneur wegen der schlechten Haftbedingungen im Gefängnis. Er verklagte die Stadt, weil sie es versäumte, Straßen in schwarzen Wohngebieten zu asphaltieren. Weitere Klagen richteten sich gegen die Bank, weil dort schwarze Kassierer fehlten, gegen den Staat, weil er an der Todesstrafe festhielt, gegen einige Fabriken, die sich weigerten, Gewerkschaften anzuerkennen. Schließlich führte und gewann er viele Prozesse, nicht nur in Ford County, und machte sich einen Namen. Seine Popularität bei Schwarzen und armen Weißen wuchs. Er stieß auch auf einige lukrative Fälle, bei denen es um Körperverletzung und Totschlag ging, darüber hinaus setzte er mehrere interessante Vereinbarungen und Vergleiche durch. Die Kanzlei – Ethel und er – verdiente besser als jemals zuvor. Doch Lucien brauchte das Geld nicht; er war reich geboren und dachte nie darüber nach. Die Buchführung überließ er Ethel.
Die Rechtsprechung bestimmte sein Leben, und da er keine Familie hatte, dachte er nur noch an die Arbeit. Fünfzehn Stunden am Tag und sieben Tage in der Woche nahm er voller Hingabe seine Aufgaben als Anwalt wahr. Alles andere interessierte ihn nicht, abgesehen von Alkohol. In den späten sechziger Jahren entdeckte er seine Vorliebe für Jack Daniel's. Einige Jahre später trank er regelmäßig, und als er Jake 1978 einstellte, hing er an der Flasche. Seine Arbeit litt nie darunter: Er lernte es, zu trinken und gleichzeitig zu praktizieren. Lucien hatte meist etwas intus, und in diesem Zustand war er besonders gefährlich – der Whisky verstärkte die boshaften und aggressiven Aspekte seines Wesens. Vor Gericht brachte er die anderen Anwälte in Verlegenheit, beleidigte den Richter, beschimpfte die Zeugen und entschuldigte sich dann bei den Geschworenen. Man fürchtete ihn, weil er in dem Ruf stand, zu allem fähig zu sein und kein Blatt vor den Mund zu nehmen. In seiner Nähe verhielten sich die Leute besonders vorsichtig. Lucien wußte das und genoß es. Er wurde immer exzentrischer. Je mehr er trank, desto verrückter führte er sich auf. Und je häufiger man über ihn sprach, desto mehr trank er.
Zwischen 1966 und 1978 stellte Lucien insgesamt elf Mitarbeiter ein und entließ sie wieder. Er beschäftigte Schwarze, Juden, Spanier und Frauen, aber niemand von ihnen war seinen Anforderungen gewachsen. Im Büro trat er wie ein Tyrann auf, fluchte dauernd und kritisierte die jungen Anwälte. Einige von ihnen kündigten schon im ersten Monat. Einer hielt zwei Jahre durch. Es war sehr schwer, Luciens Wahn zu ertragen. Er hatte genug Geld, um sich Exzentrizität zu leisten – seine Angestellten nicht.
1978 nahm er Jake, der gerade das Studium abgeschlossen hatte, in seine Dienste. Jake Brigance stammte aus Karaway, einem kleinen Ort mit zweitausendfünfhundert Einwohnern, etwa dreißig Kilometer westlich von Clanton. Er war redlich, konservativ und ein gläubiger Presbyterianer mit einer hübschen Frau, die Kinder wollte. Lucien stellte ihn ein, um herauszufinden, ob er ihn korrumpieren konnte. Jake akzeptierte den Job mit großen Vorbehalten, weil er keine besseren Angebote erhielt.
Ein Jahr später verlor Lucien die Lizenz – eine Tragödie für seine wenigen Freunde. Die Arbeiter der Schuhfabrik im Norden der Stadt hatten einen Streik beschlossen; Lucien hatte ihnen dabei geholfen, sich zu organisieren. Es kam zu Ausschreitungen, als der Direktor versuchte, die
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