Die Jury
fehlten Fenster und Telefone; dort lenkte ihn nichts ab. Oben standen drei Räume leer und unten zwei. In den vergangenen Jahren, vor dem Lizenzentzug, hatten sie einen integralen Bestandteil der angesehenen Wilbanks-Kanzlei gebildet. Jakes Büro, das Büro, bot enorm viel Platz und war fast fünfzig Quadratmeter groß. Decke und Boden bestanden aus Hartholz, ein breiter Kamin zierte die eine Wand, und hinzu kamen drei Schreibtische: einer in der Mitte, ein kleine rer in der Ecke und ein Rollschreibtisch unter dem Porträt von William Faulkner. Die antiken Eichenmöbel waren fast hundert Jahre alt, ebenso wie die Bücher und Regale. Mehrere Fenster gewährten einen beeindruckenden Blick auf den Platz und das Gerichtsgebäude, und dieses Panorama konnte man noch besser genießen, wenn man die Verandatür öffnete und auf den Balkon über dem Bürgersteig der Washington Street trat. Kein Zweifel: Jake hatte die beste Praxis in Clanton. Das räumten sogar seine Feinde von der Sullivan-Kanzlei ein.
Für all den Luxus zahlte Brigance vierhundert Dollar Miete im Monat. Das Geld bekam sein Hauswirt und früherer Chef Lucien Wilbanks, der 1979 aus der Anwaltschaft ausgeschlossen worden war.
Über Jahrzehnte hinweg hatten die Wilbanks in Ford County regiert. Sie waren stolz und reich, spielten eine führende Rolle in der Landwirtschaft, beim Bankwesen, in Politik und Recht. Alle männlichen Wilbanks entschieden sich für das Jurastudium an den Eliteuniversitäten der USA. Sie finanzierten Banken, Kirchen, Schulen und bekleideten öffentliche Ämter. Viele Jahre lang genoß die Kanzlei Wilbanks & Wilbanks den besten Ruf im Norden von Mississippi.
Lucien beendete diese Tradition. Er war der einzige männliche Wilbanks seiner Generation; es gab eine Schwester und mehrere Nichten, aber von ihnen erwartete man nur, standesgemäß zu heiraten. An Lucien stellte die Familie weitaus höhere Ansprüche, doch als er die dritte Klasse besuchte, deutete bereits einiges darauf hin, daß ein anderer Wilbanks aus ihm werden sollte. Er übernahm die Praxis 1965, als Vater und Onkel bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kamen. Zwar war er schon vierzig, aber er hatte erst wenige Monate vor dem Unglück sein Fernstudium beendet. Irgendwie war es ihm gelungen, das Examen zu bestehen. Als er begann, die Kanzlei zu leiten, verlor sie ihre ersten Mandanten. Große Klienten wie Versicherungsgesellschaften, Banken und Farmer kündigten die Beratungsverträge und wandten sich an die neu gegründete Sullivan-Kanzlei. Sullivan hatte als Junio rpartner für die Wilbanks gearbeitet, doch Lucien setzte ihn vor die Tür – und Sullivan nahm die anderen Juniorpartner und viele Klienten mit. Anschließend feuerte Lucien auch die restlichen Mitarbeiter: Teilhaber, Sekretärinnen, Buchhalter und so weiter. Nur Ethel Twitty blieb, die Sekretärin seines Vaters.
Ethel und John Wilbanks hatten sich sehr nahegestanden. Twittys jüngerer Sohn wies große Ähnlichkeit mit Lucien auf. Der arme Kerl verbrachte die meiste Zeit in verschiedenen Klapsmühlen, und Lucien nannte ihn scherzhaft seinen »zurückgebliebenen Bruder«. Nach dem Flugzeugabsturz erschien der Schwachsinnige in Clanton und erzählte überall, er sei der uneheliche Sohn von John Wilbanks. Ethel fühlte sich dadurch gedemütigt, aber sie schaffte es nicht, ihren Sprößling unter Kontrolle zu halten. Ganz Clanton sprach über den Skandal. Die Sullivan-Kanzlei strengte einen Prozeß an, vertrat den 'zurückgebliebenen Bruder' und verlangte einen Teil des Wilbanks-Erbes für ihn. Lucien war außer sich. Vor Gericht verteidigte er nicht nur Ehre und Stolz der Familie, sondern auch das Vermögen seines Vaters, das er und seine Schwester bekommen hatten. Während der Verhandlung fiel den Geschworenen die erstaunliche Ähnlichkeit zwischen Lucien und dem einige Jahre jüngeren Sohn Ethel Twittys auf, denn der zurückgebliebene Bruder saß so nahe neben Lucien, wie es die Umstände zuließen. Die Sullivan-Anwälte sorgten sogar dafür, daß er sein Verhalten nachahmte, im gleichen Tonfall sprach und sich ebenso kleidete. Ethel und ihr Mann stritten irgendeine Art von Verwandtschaft zwischen ihrem Sohn und den Wilbanks ab, aber die Geschworenen entschieden anders und sprachen ihm ein Drittel des Erbes zu. Lucien verfluchte die Jury und schlug den armen Jungen. Schließlich schleifte man ihn aus dem Gerichtssaal und brachte ihn ins Gefängnis. Beim Berufungsverfahren wurde das erste Urteil dann aufgehoben,
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