Die Jury
Eine Frau hat ziemlich klare Vorstellungen davon, was mit ihr geschieht: Ein menschliches Tier, erfüllt von Haß, Zorn und wilder Gier, fällt über sie her. Aber ein kleines, zehnjähriges Mädchen? Versetzen Sie sich in die Lage der Eltern. Stellen Sie sich vor, wie Sie versuchen, ihrer Tochter den Grund für die Vergewaltigung zu erklären. Wie wollen Sie ihr mitteilen, daß sie keine Kinder bekommen kann?«
»Einspruch.«
»Stattgegeben. Meine Damen und Herren, bitte schenken Sie der letzten Bemerkung des Verteidigers keine Beachtung.«
Jake ließ sich davon nicht aus dem Konzept bringen. »Angenommen, Ihre zehnjährige Tochter wird vergewaltigt, und Sie sind ein Vietnam-Veteran, der sich gut mit einer M-16 auskennt. Angenommen, Sie erhalten Gelegenheit, sich eine solche Waffe zu beschaffen, während das Mädchen im Krankenhaus gegen den Tod kämpft. Angenommen, der Vergewaltiger wird gefaßt. Angenommen, Sie können sechs Tage später in seine Nähe gelangen, während er aus dem Gericht geführt wird. Angenommen, Sie haben die M-16 dabei... Wie würden Sie sich verhalten?
Mr. Buckley hat darauf eine ganz persönliche Antwort gegeben. Er hätte um seine Tochter getrauert, die andere Wange hingehalten und gehofft, daß die Justiz funktioniert, daß der Vergewaltiger nach einem fairen Prozeß verurteilt und nach Parchman geschickt wird, ohne jemals auf Bewährung freizukommen. Diese Einstellung verdient Respekt. Sie sollten ihn bewundern, weil er so verständnisvoll und gefaßt ist. Aber was unternähme ein normaler Vater?«
Was unternähme Jake, wenn er eine M-16 besäße? Er würde den verdammten Mistkerl voll Blei pumpen!
»Er hatte es nicht anders verdient. Es war gerecht.«
Jake legte eine kurze Pause ein, trank Wasser und schaltete in einen anderen verbalen Gang. Die schmerzerfüllte Demut verschwand aus seinem Gesicht und wich Empörung. »Sprechen wir über Cobb und Willard. Mit ihnen hat alles angefangen. Die Staatsanwaltschaft hat versucht, sie als bemitleidenswerte Opfer darzustellen. Aber wer wird sie vermissen, abgesehen von ihren Müttern? Sie haben ein Kind vergewaltigt, mit Drogen gehandelt. Gibt es Grund für unsere Gesellschaft, solchen Leuten nachzuweinen? Ohne sie sind wir alle sicherer. Die übrigen Kinder in dieser County brauchen sich nicht mehr vor den beiden Vergewaltigern zu fürchten. Alle Eltern können beruhigt aufatmen. Man sollte Carl Lee eine Medaille verleihen oder ihm wenigstens applaudieren. Er ist ein Held. Das meinte auch Looney. Schicken Sie ihn als freien Mann nach Hause!«
Jake sprach über den Deputy. Er hatte eine Tochter – und nur noch ein Bein, was er Carl Lee Hailey verdankte. Niemand könne es ihm verdenken, wenn er verbittert gewesen wäre. Aber bei seiner Aussage brachte er Verständnis für den Angeklagten zum Ausdruck und wünschte sich einen Freispruch für ihn.
Brigance bat die Geschworenen, ebenso zu verzeihen wie Looney, ihm seinen Wunsch zu erfüllen.
Dann wurde er leiser, kündigte damit das Ende des Plädoyers an; er wollte die Jurymitglieder mit einem ganz bestimmten Gedanken zur Beratungskammer schicken. »Bitte stellen Sie sich folgendes vor. Als Tonya blutig geschlagen auf dem Boden lag, die gespreizten Beine an Bäume gefesselt, blickte sie in den Wald. Sie war nur noch halb bei Bewußtsein, halluzinierte und glaubte jemanden zu sehen, der auf sie zulief – ihren Daddy, der kam, um sie zu retten. Sie sah ihn in ihren Träumen, weil sie dringend seine Hilfe brauchte. Das Mädchen rief nach ihm, aber er verschwand. Jetzt braucht Tonya ihn ebenfalls. Sie braucht ihn ebensosehr wie zu jenem Zeitpunkt. Bitte schicken Sie ihren Daddy nicht fort. Sie sitzt dort und wartet auf ihn.
Geben Sie ihm die Möglichkeit, zu seiner Familie heimzukehren.«
Es war völlig still im Gerichtssaal, als Jake neben seinem Klienten Platz nahm. Er warf einen kurzen Blick zur Jury und beobachtete, wie sich Wanda Womack mit dem Finger eine Träne von der Wange wischte. Zum erstenmal seit zwei Tagen schöpfte er wieder Hoffnung.
Um vier verabschiedete Noose die Geschworenen. Er trug ihnen auf, einen Obmann zu wählen und mit den Beratungen zu beginnen. Sie hatten bis um sechs oder vielleicht noch eine Stunde länger Zeit, um den Fall zu besprechen, und wenn sie heute nicht zu einem Urteil fanden, würde er die Verhandlung auf neun Uhr am Dienstagmorgen vertagen. Die Jurymitglieder standen auf und schritten langsam aus dem Saal. Als sich die Tür hinter ihnen schloß,
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