Die Jury
Normalität, kein Haus. Dafür jede Menge Bier.«
»Ich halte an meinen ethischen Grundsätzen fest.«
»Und ich habe sie längst aufgegeben. Zusammen mit Moral und Gewissen. Aber ich gewann vor Gericht, Teuerster. Ich gewann mehr Prozesse als alle anderen Anwälte in dieser Gegend, und das wissen Sie.«
»Sie sind durch und durch verdorben, Lucien.«
»Glauben Sie etwa, Buckley sei nicht verdorben? Er würde lügen, betrügen, bestechen und stehlen, um diesen Fall zu gewinnen. Er schert sich einen Dreck um Ethik, Verfahrensregeln und Meinungen. Die Moral ist ihm völlig gleich. Er will nur eines den Sieg erringen. Und Sie haben nun die Chance, ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Nutzen Sie die gute Gelegenheit, Jake.«
»Kommt nicht in Frage, Lucien. Vergessen Sie's.«
Eine Stunde verstrich, ohne daß jemand von ihnen ein Wort sagte. In der Stadt verlosch ein Licht nach dem anderen, und der im Streifenwagen schnarchende Nesbit war deutlich zu hören. Sallie brachte einen letzten Drink und ging schlafen.
»Das ist der schwierigste Teil«, murmelte Lucien. »Darauf zu warten, daß zwölf gewöhnliche, durchschnittliche Bürger ein Urteil sprechen.«
»Unsere Justiz ist verrückt, nicht wahr?«
»Ja. Aber meistens funktioniert sie. In neun von zehn Fällen finden die Geschworenen zum richtigen Urteil.«
»Ich fürchte, das Glück hat mich verlassen. Ich kann nur auf ein Wunder hoffen.«
»Ach, Jake, mein Junge – das Wunder wird morgen geschehen.«
»Morgen?«
»Ja. Morgen früh.«
»Wie meinen Sie das?«
»Bis morgen mittag finden sich zehntausend wütende Schwarze vor dem Gerichtsgebäude in Clanton ein. Vielleicht sogar noch mehr.«
»Zehntausend! Warum?«
»Um zu demonstrieren und ›Freiheit für Carl Lee! Freiheit für Carl Lee!‹ zu schreien. Um für Chaos zu sorgen, alle Leute zu verängstigen und die Geschworenen einzuschüchtern. Um die öffentliche Ordnung zu stören. Es werden so viele Schwarze kommen, daß sich die entsetzten Weißen irgendwo verkriechen und der Gouverneur noch mehr Truppen schickt.«
»Woher wissen Sie das alles?«
»Weil ich es geplant habe, Jake.«
»Sie?«
»Als ich noch praktizierte, kannte ich alle schwarzen Prediger in fünfzehn Countys. Ich habe ihre Kirchen besucht, mit ihnen gebetet, gesungen und demonstriert. Sie schickten mir Klienten, und ich schickte ihnen Geld. Ich war der einzige weiße radikale NAACP-Anwalt im Norden von Mississippi. Ich habe mehr Prozesse wegen Rassendiskriminierung geführt als die zehn größten Kanzleien in Washington. Ich gehörte zur großen Familie der Schwarzen. Einige Telefonate genügten. Die ersten Nigger treffen morgen früh in Clanton ein, und bis zum Mittag wimmelt es in der Stadt von ihnen.«
»Woher kommen sie?«
»Von überall. Sie wissen ja, wie gern Schwarze marschieren und protestieren. Sie freuen sich darauf.«
»Sie sind übergeschnappt, Lucien«, wiederholte Jake. »Mein übergeschnappter Freund.«
»Ich gewinne, Teuerster.«
Im Zimmer mit der Nummer 163 beendeten Barry Acker und Clyde Sisco ihr letztes Romméspiel und bereiteten sich auf die Nachtruhe vor. Acker nahm einige Münzen und meinte, er wolle etwas zu trinken holen. Sisco antwortete, er sei nicht durstig.
Im Flur schlich der Obmann auf Zehenspitzen an einem eingeschlafenen Wächter vorbei. Der Automat am Ende des Korridors funktionierte nicht. Acker öffnete leise die Tür und ging die Treppe zum nächsten Stockwerk hoch, wo er einen zweiten Automaten fand. Er steckte die Münzen hinein, wählte eine Diet Coke und bückte sich, um nach der Dose zu greifen.
Zwei Gestalten sprangen aus der Dunkelheit, schlugen Barry nieder und zerrten ihn zu einer Tür, vor der eine Kette mit Vorhängeschloß hing. Der größere Fremde packte Acker am Kragen und drückte ihn an die Wand, während der andere neben dem Getränkeautomaten stehenblieb und durch den finsteren Flur starrte.
»Sie sind Barry Acker«, knurrte der Mann.
»Ja! Lassen Sie mich los!« Er versuchte, sich zu befreien, doch der Unbekannte schloß die eine Hand um seine Kehle. Mit der anderen holte er ein langes Jagdmesser hervor und hielt es an Ackers Nase. Barry rührte sich nicht mehr.
»Hören Sie gut zu«, zischte der Fremde. »Wir wissen, daß Sie verheiratet sind und am Forrest Drive 1161 wohnen. Wir wissen, daß Sie drei Kinder haben. Wir wissen auch, wo Ihre Sprößlinge spielen und zur Schule gehen. Ihre Frau arbeitet in der Bank.«
Acker erstarrte.
»Einen Freispruch des
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