Die Jury
nichts von seinem Problem. Es tut mir leid. Doch zu W. T. Bass' Aussage... Vor dreißig Jahren ließ er sich in Texas mit einem Mädchen unter achtzehn ein. Muß daraus der Schluß gezogen werden, daß er hier vor Gericht gelogen hat? Bedeutet es, daß man seiner Expertenmeinung nicht vertrauen darf? Bitte seien Sie fair zu dem Psychiater Bass. Vergessen Sie die Privatperson namens Bass. Bitte seien Sie fair zu seinem Patienten Carl Lee Hailey. Er hatte keine Ahnung von der Vergangenheit des Arztes. Vielleicht sind noch einige weitere Informationen über Bass nützlich. Ich möchte Sie auf etwas hinweisen, daß Mr. Buckley nicht erwähnte, als er den Doktor in Stücke riß. Das betreffende Mädchen war damals siebzehn Jahre alt. Später wurde sie seine Frau, gebar ihm einen Sohn und wurde erneut schwanger, als sie und der kleine Junge bei einem Zugunglück ums Leben...«
»Einspruch!« rief Buckley. »Einspruch, Euer Ehren. Das steht nicht im Protokoll!«
»Stattgegeben. Mr. Brigance, Sie dürfen sich nur auf im Protokoll verzeichnete Fakten beziehen. Ich fordere die Geschworenen auf, den letzten Bemerkungen des Verteidigers keine Beachtung zu schenken.«
Jake ignorierte Noose und Buckley und blickte mit schmerzerfüllter Miene zur Jury hinüber.
Als wieder Stille herrschte, setzte er seine Ansprache fort. Und Mr. Rodeheaver? Hatte jener Psychiater, der für die Staatsanwaltschaft aussagte, jemals Geschlechtsverkehr mit einer Minderjährigen? Wie töricht, heute über solche Dinge nachzudenken, nicht wahr? Bass und Rodeheaver als junge Erwachsene nach dreißig Jahren erschien so etwas völlig bedeutungslos.
Der von Mr. Buckley vorgeführte Sachverständige zeichnete sich ganz offensichtlich durch eine ausgeprägte Voreingenommenheit aus. Ein hervorragend qualifizierter Spezialist, der viele verschiedene Geisteskrankheiten behandelte, aber keine Unzurechnungsfähigkeit erkennen kann, wenn es um Verbrechen geht. Seine Aussage sollte sorgfältig geprüft werden.
Die Geschworenen beobachteten Jake und hörten jedes Wort. Er war kein Gerichtssaalprediger wie der Bezirksstaatsanwalt. Er sprach mit ruhigem Ernst und wirkte müde, fast verletzt.
Der nüchterne Lucien saß mit verschränkten Armen da, beobachtete die Jurymitglieder und mied Siscos Blick. Es war nicht sein Plädoyer, aber es klang gut, kam aus dem Herzen.
Jake entschuldigte sich für seine Unerfahrenheit. Er habe an nicht annähernd so vielen Prozessen teilgenommen wie Mr. Buckley. »Wenn mir Fehler unterlaufen, so legen Sie das bitte nicht Carl Lee zur Last. Er ist nicht seine Schuld. Ich bin nur ein Grünschnabel, der sich alle Mühe gibt und es mit einem erfahrenen Prozeßgegner zu tun hat, der häufig Mordfälle verhandelt. Ja, es war ein Fehler, Bass in den Zeugenstand zu rufen, und ich habe auch andere Fehler gemacht, und dafür bitte ich Sie, meine Damen und Herren Geschworenen, um Verzeihung.«
Jake erwähnte seine Tochter, das einzige Kind in der Familie, und es würden keine weiteren folgen. Sie war vier, fast fünf, und seine ganze Welt drehte sich um sie. Sie stellte etwas Besonderes dar – ein kleines Mädchen, das er beschützen mußte. Eine spezielle Beziehung, die er nicht erklären konnte, verband ihn mit ihr.
Auch Carl Lee hatte eine Tochter. Sie hieß Tonya. Er deutete auf sie in der vordersten Reihe, neben ihrer Mutter und den Brüdern. »Ein wundervolles Mädchen, zehn Jahre alt. Und sie kann nie Kinder haben. Sie kann nie eine Tochter bekommen, weil...«
»Einspruch«, sagte Buckley überraschend ruhig.
»Stattgegeben«, erwiderte Noose.
Jake achtete nicht darauf. Er sprach über Vergewaltigung und meinte, so etwas sei viel schlimmer als Mord. Der Mord beendete das Leiden des Opfers und zwang es nicht, sich immer wieder mit dem schrecklichen Erlebnis auseinanderzusetzen. Das blieb allein der Familie überlassen. Das Opfer einer Vergewaltigung hingegen denkt dauernd daran, was es ertragen mußte. Es versucht zu verstehen, stellt Fragen. Schlimmer noch: Es weiß, daß der Vergewaltiger lebt und vielleicht eines Tages freigelassen wird oder flieht. Ständig, in jeder Stunde, an jedem Tag, erinnert sich das Opfer an die Vergewaltigung und quält sich mit Tausenden von Fragen. In seinen Gedanken kehrt es zu dem grauenvollen Geschehen zurück, erlebt alles noch einmal, Schritt für Schritt, Minute um Minute. Und es schmerzt genauso wie damals.
»Das schrecklichste aller möglichen Verbrechen ist die Vergewaltigung eines Kindes.
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