Die Kälte Des Feuers
bringen.«
»Nein, schon gut.« Henry wischte die Tränen mit der linken Hand fort. »Ich muß mich entschuldigen … Dafür, ein alter Narr zu sein.«
»Das sind Sie ganz bestimmt nicht.«
»Ich dachte nur … Wissen Sie, ich war ziemlich sicher, daß Jim für immer allein bleiben würde.«
»Warum?«
»Nun …«
Es schien ihm Kummer zu bereiten, etwas Negatives über seinen Enkel zu sagen, und damit tilgte er alle Bilder aus Holly, die ihr irgendeine Art von Tyrannen zeigten.
Sie ahnte, worauf er hinauswollte. »Er neigt dazu, andere Menschen von sich fernzuhalten. Meinen Sie das?«
Henry nickte. »Selbst mich. Die ganzen Jahre über habe ich ihn mit der ganzen Kraft meines Herzens geliebt, und ich weiß, daß er mich ebenfalls liebt, auf seine eigene Art und Weise obwohl es ihm immer Mühe bereitete, seine Gefühle zu zeigen, obwohl er es nie sagte.« Als Holly ihm eine Frage stellen wollte, schüttelte Henry plötzlich den Kopf, und in seinem Gesicht zeigte sich so intensives Leid, daß die junge Frau einen zweiten Schlaganfall befürchtete. »Weiß Gott, es ist nicht allein seine Schuld, nein, bestimmt nicht.« Emotionaler Aufruhr verstärkte das Lallen in seiner Stimme. »Ich muß es zugeben - ein Teil der Distanz zwischen uns geht auf mich zurück. Ich hätte nie solche Vorwürfe gegen ihn erheben dürfen.«
»Vorwürfe?«
»Wegen Lena.«
Ein Schatten aus Furcht strich über Hollys Herz und verursachte Schmerzen, wie man sie bei Angina pectoris bekommt.
Sie blickte zum Fenster, durch das man auf den Hof sehen konnte. Jim wartete offenbar auf der anderen Seite. Holly fragte sich, was er jetzt dachte, was er empfand …
»Wegen Lena?« wiederholte sie. »Das verstehe ich nicht.« Eine Lüge.
»Heute erscheint mir unverzeihlich, was ich damals dachte, wie ich mich verhielt.« Henry zögerte, sah in die Ferne, in die Vergangenheit. »Damals war er so seltsam, überhaupt nicht mehr das Kind, das wir kannten. Bevor Sie auch nur hoffen können, mich zu verstehen, müssen Sie folgendes wissen: Nach Atlanta wurde er immer sonderbarer und kapselte sich vollständig von der Umwelt ab.«
Bei diesen Worten dachte Holly sofort an Sam und Emily Newsonne, die Jim in Atlanta gerettet hatte - und an Norman Rink, auf den er die Schrotflinte achtmal abfeuerte, in blinder Wut. Aber Henry meinte wahrscheinlich einen anderen Vorfall, der wesentlich länger zurücklag.
»Sie wissen nicht über Atlanta Bescheid?« fragte er und reagierte damit auf Hollys unübersehbare Verwirrung.
Ein seltsames Geräusch erklang und alarmierte sie. Einige Sekunden lang konnte sie es nicht identifizieren, und dann begriff sie, daß es von Vögeln stammte: Sie krächzten und zirpten so laut, als glaubten sie ihre Nester bedroht. Es befanden sich keine Vögel im Zimmer; vermutlich tönte das Kreischen vom Dach durch den Kaminschornstein. Nach einer Weile verklang es allmählich.
Holly konzentrierte sich wieder auf Henry Ironheart. »Atlanta? Nein, davon weiß ich nichts.«
»Das dachte ich mir. Ich wäre sehr überrascht gewesen, wenn Jim Ihnen davon erzählt hätte selbst wenn er Sie liebt. Er spricht nie darüber.«
»Was geschah in Atlanta?«
»Es passierte in einem Restaurant namens Dixie Duck …«
»O mein Gott«, hauchte Holly und erinnerte sich sofort an den schrecklichen Traum.
»Allem Anschein nach wissen Sie wenigstens etwas davon«, sagte Henry. Dumpfe Pein glänzte in seinen Augen.
Sie spürte, wie ihr Gesicht zu einer Grimasse des Grams wurde. Ihr Mitgefühl bezog sich nicht etwa auf Jims Eltern, auch nicht auf Henry, der die beiden sicher sehr geliebt hatte - es galt dem Mann, der draußen wartete. »O mein Gott.« Und dann brachte sie keinen Ton mehr hervor. Sie fühlte einen dicken Kloß im Hals, und auch aus ihren Augen lösten sich Tränen.
Henry streckte eine fleckige Hand aus, und Holly griff danach, sammelte Kraft und versuchte, den Schock zu überwinden.
Das Läuten von Glocken drang aus dem Lautsprecher des Fernsehers, der an der gegenüberliegenden Wand stand. Signalhörner erklangen in der TV-Show.
Jims Eltern waren keineswegs durch einen Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Er hatte diese Geschichte erfunden, um nicht die schreckliche Wahrheit erzählen zu müssen.
Hollys letzter Traum stellte keine prophetische Vision dar. Es handelte sich vielmehr um eine weitere Erinnerung Jims, in ihr Bewußtsein projiziert, als sie beide schliefen. Sie hielt sich dabei erneut in einem fremden Körper auf, doch
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