Die Kälte Des Feuers
enthüllen. »Wenn ich nicht rechtzeitig in Boston eintreffe, wird jemand sterben. Jemand, der leben soll.«
»Wer? Wen meinen Sie?«
Jim leckte sich über die brüchigen Lippen. »Ich weiß es nicht.«
»Sie wissen es nicht?«
»Aber ich erfahre es, wenn ich Boston erreiche.«
Pater Geary starrte ihn groß an. »Jim«, sagte er nach einer Weile, »Sie sind der seltsamste Mann, den ich jemals kennengelernt habe.«
Ironheart nickte. »Ich bin der seltsamste Mann, den ich kenne.«
Als sie die Pfarrei im sechs Jahre alten Toyota des Priesters verließen, blieb noch eine Stunde Licht an diesem heißen Augusttag. Allerdings war die Sonne hinter Wolken verborgen, die wie blaue Flecken am Himmel aussahen.
Nach dreißig Minuten zuckten erste Blitze und tanzten auf Zackenbeinen am düsteren Wüstenhorizont entlang. Immer häufiger flackerte es, so hell, daß Jim mehrmals geblendet die Augen zukniff. Es verstrichen weitere zehn Minuten, und der Himmel wurde dunkel. Regen fiel in silbernen Katarakten, vergleichbar mit einem Wolkenbruch, den Noah kurz vor der Fertigstellung seiner Arche erlebt hatte.
»Unwetter im Sommer sind hier recht selten«, sagte Pater Geary und schaltete die Scheibenwischer ein.
»Wir dürfen dadurch keine Zeit verlieren«, erwiderte Jim besorgt.
»Ich bringe Sie zum Flughafen«, versprach der Geistliche.
»Abends starten bestimmt nur wenige Maschinen. Die meisten Flüge finden tagsüber statt. Ich kann nicht in Las Vegas übernachten, ich muß morgen in Boston sein.«
Der ausgedörrte Sand saugte den Regen auf, aber manche Stellen waren felsig oder während monatelanger Hitze fest-gebacken. Dort floß das Wasser über Hänge und formte Bäche in schmalen Niederungen. Aus den Bächen wurden Flüsse, aus den Flüssen breite, reißende Ströme bis unter jeder Arroyobrücke braune Fluten brodelten, auf denen nicht nur entwurzelte Bartgrasbüschel schwammen, sondern auch zerfetzte Steppenläufer, Treibholz und schmutziger Schaum.
Pater Geary hatte zwei Kassetten mit seiner Lieblingsmusik im Wagen: eine Sammlung von Rock-‘n’-Roll-Oldies und ein Best-of-Album von Elton John. Er entschied sich für die zweite. Sie fuhren erst durch den Rest des stürmischen Tages, dann durch eine regnerische Nacht und hörten dabei die Songs >Funeral for a Friend<, >Daniel< und >Benny and the Jets<.
Pfützen glitzerten wie Quecksilberlachen auf dem Asphalt. Jim erschien es gespenstisch, daß die Wasser-Fata-Morganen von den Tagen zuvor Wirklichkeit geworden waren.
Seine Anspannung wuchs von Minute zu Minute. Boston rief, aber viele hundert Meilen trennten ihn von der Stadt, und nichts war tückischer als ein schwarzer Highway während einer sturmgepeitschten Nacht in der Wüste - sah man einmal von dem menschlichen Herzen ab.
Der Priester beugte sich vor, spähte durch die Windschutzscheibe und summte Eltons Melodien.
»Gab es nicht einen Arzt im Ort, Pater?« fragte Jim nach einer Weile.
»Ja.«
»Aber Sie haben ihn nicht gerufen.«
»Das Kortisonrezept stammt von ihm.«
»Ich konnte einen Blick auf die Tube werfen. Das Rezept war für Sie und wurde vor drei Monaten ausgestellt.«
»Nun … Ich kenne mich mit Sonnenstichen aus und weiß, worauf es bei der Behandlung ankommt.«
»Zuerst schienen Sie sich große Sorgen zu machen.«
Einige Minuten lang schwieg der Priester und lenkte seinen Toyota stumm durch die Nacht. Dann sagte er: »Ich weiß nicht, wer Sie sind, woher Sie kommen oder warum Sie so dringend nach Boston müssen. Aber ich weiß, daß Sie Probleme haben, vielleicht sogar enorm große Probleme. Und ich glaube zumindest, daß Sie im Grunde Ihres Herzens gut sind. Wie dem auch sei: Ich dachte mir, daß einem Mann in Schwierigkeiten nichts daran liegt, Aufmerksamkeit zu erregen.«
»Das stimmt. Danke.«
Nach einigen Meilen wurde der Regen so stark, daß die Scheibenwischer nicht mehr mithalten konnten. Es blieb Geary keine andere Wahl, als langsamer zu fahren.
»Sie haben die Frau und das Mädchen gerettet«, sagte er.
Jim versteifte sich, ohne Antwort zu geben.
»Im Fernsehen wurde jemand beschrieben, der genauso aussieht wie Sie«, fügte der Priester hinzu.
Erneut schwiegen sie eine Zeitlang.
»Ich lasse mich von Wundern nicht zum Narren halten«, bemerkte Pater Geary.
Diese Worte verblüfften Jim.
Der Geistliche schaltete den Kassettenrecorder aus. Die einzigen Geräusche stammten nun vom Zischen der Reifen auf nassem Asphalt und dem metronomischen Pochen der
Weitere Kostenlose Bücher