Die Kälte Des Feuers
hatte keine Pläne, wollte sich nur entspannen, herumhängen und keine Zeitung anrühren. Vielleicht ging sie ins Kino oder las einige Bücher. Vielleicht sollte ich das Betty Ford Center aufsuchen und mit Psychologen sprechen, um mich von den Depressionen befreien zu lassen.
Sie erreichte das gefährliche Stadium, in dem sie über ihren Namen nachzugrübeln begann. Holly Thorne. Einfallsreich. Ja, wirklich fantasievoll. Bei allen Heiligen, was hat meine Eltern veranlaßt, mir so etwas anzutun? Sie versuchte, sich ein Pulitzerkomitee vorzustellen, das seinen Preis einer Frau verlieh, deren Name sich eher für eine Zeichentrickfigur eignete. Manchmal - nie am Tag, immer mitten in der Nacht - spielte sie mit dem Gedanken, ihre Eltern anzurufen und sie zu fragen, warum sie einen derartigen Namen gewählt hatten. Deutete er nur auf schlechten Geschmack hin? Handelte es sich um einen schlechten Scherz oder bewußte Grausamkeit?
Doch Hollys Vater und Mutter waren hart arbeitende Menschen, die viele Opfer gebracht hatten, um ihrer Tochter eine erstklassige Ausbildung zu ermöglichen. Sie wollten nur das Beste für sie. Vermutlich hielten sie den Namen für clever und kultiviert, und es hätte sie sicher bestürzt zu erfahren, daß Holly ihn verabscheute. Sie liebte ihre Eltern von ganzem Herzen, und nur dann, wenn sie in den tiefsten Gräben der Depression hockte, ließ sie sich dazu hinreißen, in ihnen die Ursache für ihre Probleme zu sehen.
Sie fürchtete fast, nach dem Telefon zu greifen und sie anzurufen, wandte sich rasch wieder dem Computer zu und öffnete die Datei der aktuellen Ausgabe. Das Datenzugriffssystem des Portland Kurier ermöglichte es den Reportern, allen Artikeln durch die Phasen Bearbeitung, Satz und Produktion zu folgen. Die Zeitung für den nächsten Tag für diesen Tag, erinnerte sich die Journalistin - war bereits formatiert und im Druck, und deshalb konnte Holly jede Seite auf den Schirm holen. Nur die Schlagzeilen fielen auf, aber es gab die Möglichkeit, beliebige Stellen zu vergrößern. Manchmal munterte sich Holly ein wenig auf, indem sie eine wichtige Story las, bevor die Zeitung zum Verkauf gelangte; dadurch gewann sie zumindest für kurze Zeit den Eindruck, ein Insider zu sein - ein Aspekt des Jobs, der alle jungen Leute faszinierte, die sich zum Journalismus berufen fühlten.
Doch als Holly die Schlagzeilen der ersten Seiten las und nach einem interessanten Artikel Ausschau hielt, verstärkte sich ihre Niedergeschlagenheit. Ein großes Feuer in St. Louis, neun Tote. Kriegsangst im Nahen Osten. Ein Tanker, der vor der japanischen Küste Rohöl verlor. Ein Taifun, der in Indien zu einer Überschwemmung führte; Zehntausende von Obdachlosen. Die Bundesregierung plante eine neuerliche Steuererhöhung. Holly stöhnte lautlos. Sie wußte schon seit einer ganzen Weile, daß die Nachrichtenindustrie mit Katastrophen, Skandalen, brutaler Gewalt und ähnlichen Dingen florierte, aber plötzlich erschien ihr das alles greulich und ekelhaft. Sie wollte gar kein Insider mehr sein, nicht zu den ersten gehören, die von diesen schrecklichen Angelegenheiten erfuhren.
Als sie beschloß, die Datei zu schließen und den Computer auszuschalten, fiel ihr eine andere Schlagzeile auf: GEHEIMNISVOLLER FREMDER RETTET JUNGEN. Die Ereignisse bei der McAlbury School lagen noch nicht ganz zwölf Tage zurück, und jene vier Worte weckten besondere Assoziatio nen in Holly. Sie wurde neugierig und wies den Computer an, die Spalte mit dem Anfang des Artikels zu vergrößern.
>Boston< stand in der Datumszeile, und es gehörte auch ein Foto zum Bericht. Es war zwar dunkel und undeutlich, aber die derzeitige Vergrößerungsstufe genügte, um den Text darunter zu lesen. Hollys Finger berührten einmal mehr die Tasten, und daraufhin erfuhr die Spalte ein horizontales und vertikales Wachstum. Die Buchstaben gewannen klarere Konturen.
Holly richtete sich kerzengerade auf, als sie die ersten Zeilen las. Ein mutiger Passant, der nur >Jim< als Namen nannte, rettete Nicholas O’Connor, 6, als Mittwochabend unter dem Bürgersteig eines Wohnviertels in Boston eine Starkstromstation der New England Power and Light Company explodierte.
»Zum Teufel auch …«, stieß Holly hervor.
Wieder betätigte sie mehrere Tasten, und das Bild auf dem Monitor glitt nach rechts und zeigte ihr das Foto. Sie wählte eine noch höhere Vergrößerung, bis das Gesicht den ganzen Schirm ausfüllte.
Jim Ironheart.
Einige Sekunden lang saß die
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