Die Kälte Des Feuers
Journalistin wie gelähmt und starrte verblüfft auf die Darstellung. Dann spürte sie den jähen Wunsch, mehr zu erfahren. Das Gefühl beschränkte sich nicht auf ein intellektuelles Bedürfnis, gewann die ausgeprägte Intensität von physischem Hunger.
Sie konzentrierte sich auf den Text, überflog den Artikel und las ihn noch einmal. Der O’Connor-Junge hockte auf dem Bürgersteig vor dem Haus seiner Eltern, direkt auf dem einen Quadratmeter großen Betondeckel über der unterirdischen Starkstromstation, die groß genug war, um vier Technikern Platz zu bieten. Der Knabe spielte mit kleinen Autos, und die Eltern beobachteten ihn von der vorderen Veranda aus, als plötzlich ein Mann über die Straße lief. »Er eilte direkt auf Nicky zu und packte ihn«, sagte der Vater später. »Ich hielt ihn für einen Verrückten, der es auf Kinder abgesehen hat und meinen Sohn entführen wollte.« Der Mann hob den schreienden Jungen hoch und sprang über den niedrigen Palisadenzaun auf den Rasen der O’Connors, als das 17 000-Volt-Kabel in der Starkstromstation explodierte. Die Druckwelle schleuderte den Betondeckel hoch in die Luft, als sei er nicht schwerer als ein Penny, und lodernde Flammen folgten ihm. Nickys dankbare Eltern und die Nachbarn, die alles gesehen hatten, überhäuften den Fremden mit Dankesworten. Er behauptete, den Geruch verschmorender Isolierungen und ein Zischen wahrgenommen zu haben. Er wußte, daß eine Explosion bevorstand, weil er >einmal für ein Elektrizitätswerk gearbeitet hatte, stellte sich nur als Jim vor und bestand darauf, den Ort zu verlassen, bevor Reporter eintrafen. Als Grund dafür gab er an: >Ich lege großen Wert auf meine Privatsphäre.<
Die Rettung in letzter Sekunde fand um 19.40 Uhr am Donnerstagabend in Boston statt - 16.40 Uhr Portland-Zeit am vergangenen Nachmittag. Erneut sah Holly auf die Wanduhr. 2.02 Uhr am Freitagmorgen. Der Fremde hatte Nicky O’Connor vor knapp neuneinhalb Stunden vom fatalen Betondeckel gerissen.
Die Spur ist noch frisch.
Sie hätte dem Globe-Reporter, von dem der Artikel stammte, gern einige Fragen gestellt. Aber in Boston war es erst kurz nach fünf; wahrscheinlich lag er noch im Bett und schlief.
Holly schloß die Datei der aktuellen KurierAusgabe. Auf dem Bildschirm wich der vergrößerte Text dem Standardmenü.
Mit Hilfe eines Modems schaltete sich die Journalistin in das weite Netzwerk aus Datendiensten ein, die dem Portland Kurier zur Verfügung standen. Sie wies Newsweb an, alle Berichte zu überprüfen, die während der vergangenen drei Monate von den Nachrichtenagenturen herausgegeben worden und in den wichtigsten amerikanischen Zeitungen erschienen waren. Als Auswahlbedingung gab sie an, daß der Name >Jim< in einem Abstand von höchstens zehn Worten mit den Begriffen >Rettung< oder >das Leben gerettet< genannt wurde. Sie bat um einen Ausdruck der betreffenden Artikel und die Vermeidung von Wiederholungen.
Während Newsweb ihren Auftrag erfüllte, griff Holly nach dem Telefon auf ihrem Schreibtisch, rief die Auskunft an und fragte nach Informationen in bezug auf die Vorwahlnummern 818, 213, 714 und 619. Sie suchte nach dem Namen Jim Ironheart, und zwar in den Counties von Los Angeles, Orange, Riverside, San Bernardino und San Diego. Holly erzielte nicht den gewünschten Erfolg. Wenn Ironheart wirklich in Südkalifornien lebte, wie er behauptet hatte, so war sein Telefon nicht verzeichnet.
Der Laserdrucker, den sie mit drei anderen Arbeitsplätzen teilte, summte leise. Die ersten Entdeckungen von Newsweb glitten ins Ausgabefach.
Holly wollte zu dem niedrigen Tisch eilen, auf dem der Drucker stand, um das erste Blatt zu nehmen und es sofort zu lesen. Doch sie widerstand der Versuchung und richtete ihre Aufmerksamkeit statt dessen aufs Telefon. Gab es eine andere Möglichkeit, Jim Ironheart in jenem Teil von Kalifornien zu finden, den die Einheimischen >Southland< nannten?
Vor wenigen Jahren hätte sie sich einfach mit dem Computer des kalifornischen Department of Motor Vehicles in Verbindung setzen können und gegen eine kleine Gebühr die Adresse jedes Führerscheininhabers in dem Staat bekommen. Aber nachdem die Schauspielerin Rebecca Schaeffer von einem fanatischen Verehrer ermordet worden war, der sie auf diese Weise gefunden hatte, schützte ein neues Gesetz die DMV-Aufzeichnungen.
Einem erfahrenen Hacker, der sich bestens mit der Daten-Magie auskannte, wäre es sicher nicht sehr schwer gefallen, alle Sicherheitsschranken zu
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