Die Kälte Des Feuers
keine Bilder, konfrontierte sie nur mit Dingen, die Ohren, Nase und Haut betrafen. Vielleicht träumten so Menschen, die von Geburt an blind waren. Holly spürte Kühle und roch etwas, das sie an Kalkstein erinnerte. Zuerst fürchtete sie sich nicht, fühlte sich nur verwirrt und tastete mit den Händen vorsichtig über die Wände der Kammer. Sie bestanden aus Steinblöcken mit schmalen Mörtelfugen. Nachdem sie ihre Umgebung eine Zeitlang erforscht hatte, kam sie zu dem Schluß, daß es eigentlich nur eine Wand gab, die sich nach innen wölbte und überhaupt keine Ecken aufwies. Also mußte das Zimmer rund sein. Sie hörte nur die Geräusche, die sie selbst verursachte - und ein leises Zischen im Hintergrund. Hinzu kam das dumpfe Pochen von Regentropfen, die auf das Schieferdach über ihr fielen.
Im Traum wich sie von der Wand fort und ging über einen festen Holzboden, die Arme weit ausgestreckt. Zwar stieß sie an keine Hindernisse, aber ihre Neugier wurde allmählich zu nagendem Unbehagen. Sie verharrte, rührte sich nicht mehr von der Stelle, davon überzeugt, etwas Unheilvolles gehört zu haben.
Ein subtiles Geräusch. Vielleicht das leise, doch beharrliche Prasseln des Regens? Es erklang erneut. Ein Quietschen.
Für einen Sekundenbruchteil dachte Holly an eine große, dicke Ratte, aber das seltsame Quietschen hielt zu lange an, als daß es von einer Ratte stammen konnte. Es war mehr ein Knarren, doch als Ursache kamen nicht die Dielen unter ihr in Frage. Stille. Einige Sekunden später wiederholte sich das Geräusch … wurde leiser … kehrte zurück … bildete einen Rhythmus.
Holly begriff, daß sie den Protest irgendeiner ungeölten mechanischen Vorrichtung vernahm, und das hätte sie erleichtern sollen. Statt dessen fühlte sie, wie ihr Herz schneller schlug, als sie in dem finsteren Raum stand und sich die seltsame Maschine vorzustellen versuchte. Das Knarren wurde nur ein wenig lauter, aber es ertönte in kürzeren Abständen. Zuerst hörte Holly es alle drei oder vier Sekunden, dann in jeweils zwei oder drei - schließlich erklang es jede Sekunde.
Plötzlich kam ein seltsames Wusch-wuschwusch hinzu, synchron mit dem Knarren. Holly dachte an ein langes, flaches Objekt, das durch die Luft strich.
Wusch.
Ganz nahe. Doch die Journalistin spürte keinen Luftzug.
Wusch.
Vor ihrem inneren Auge sah sie eine Klinge.
Wusch.
Eine große Klinge. Riesig. Scharf. Schnitt durch die Luft.
Wusch.
Etwas Schreckliches näherte sich, eine so seltsame Wesenheit, daß selbst Licht - und ein klarer Anblick der Wesenheit - kein Verstehen bringen konnte. Zwar war sich Holly ihres Traums bewußt, aber sie begriff, daß sie diesen dunklen, steinernen Ort so schnell wie möglich verlassen mußte, wenn sie überleben wollte. Einem Alptraum entkam man nicht, indem man weglief, es blieb ihr also keine andere Wahl, als zu erwachen. Doch die Müdigkeit lastete noch immer schwer auf ihr, und sie sah sich außerstande, die Fesseln des Schlafs zu zerreißen. Die lichtlose Kammer schien sich zu drehen, und Holly gewann den Eindruck, daß ein großer Mechanismus in Bewegung geriet (Knarren, Wusch), in die regnerische Nacht ragte (Knarren, Wusch), sich von einer Seite zur anderen neigte (Knarren, Wusch), durch die Luft schnitt (Knarren, Wusch), sie versuchte zu schreien (Knarren, Wusch), aber ihre Kehle war wie zugeschnürt (Wusch-wusch-wusch), sie konnte nicht erwachen und um Hilfe rufen. WUSCH!
»Nein!«
Jim setzte sich ruckartig im Bett auf, als er dieses eine Wort hervorstieß. Schweiß glänzte in seinem Gesicht, und erbebte am ganzen Leib.
Er war rasch eingeschlafen, und die Nachttischlampe brannte noch immer. Dahinter steckte kein Zufall, sondern bewußte Absicht. Seit mehr als einem Jahr litt er an Alpträumen, die ihm verschiedene Orte und finstere Gestalten zeigten; an die meisten davon erinnerte er sich nicht mehr, wenn er erwachte. Das namen- und gestaltlose Wesen, das er den >Feind< nannte und von dem er geträumt hatte, während er sich in der Kirche Jungfrau Maria in der Wüste erholte, war
die entsetzlichste Erscheinung in der visionären Welt, wenn auch nicht das einzige Ungeheuer.
Doch diesmal galt sein Grauen nicht etwa einer einzelnen Person oder einem Monstrum, sondern einem Ort. Der Windmühle.
Jim sah auf die Uhr neben dem Bett. Viertel vor vier morgens.
Er trug nur die Pyjamahose, als er aufstand und in die Küche ging.
Das fluoreszierende Licht brannte ihm in den Augen. Gut. Er wollte, daß sich
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