Die Kälte Des Feuers
Schlechteste von jemand.«
»Ich habe keine finanziellen Probleme«, behauptete Holly. »Ich brauche Jims Geld nicht, würde es nicht einmal nehmen, wenn er es mir anböte. Meine Adoptiveltern sind Ärzte, nicht reich, aber wohlhabend. Ich bin Rechtsanwältin und habe eine kleine Praxis.«
Na schön, du willst sein Geld wirklich nicht, dachte Holly mit solchem Abscheu vor sich selber, daß es wie Säure ätzte. Aber du bleibst eine verdammte Lügnerin mit einem erschreckenden Talent für Details. Wahrscheinlich verbringst du die Ewigkeit damit, bis zur Hüfte in Scheiße zu stehen und die Stiefel des Teufels zu putzen.
Violas Stimme veränderte sich, als sie den Stuhl zurückschob, aufstand und zum Rand der Veranda ging. Sie zupfte einen Grashalm aus einem großen Terrakottatopf, in dem Begonien, Schleierkraut und kupfergelbe Ringelblumen wuchsen. Geistesabwesend rieb sie den Halm zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, während sie nachdenklich über die Parklandschaft starrte.
Sie schwieg, gab keinen Ton von sich.
Holly befürchtete, daß sie etwas Falsches gesagt und sich dadurch verraten hatte. Mit jeder verstreichenden Sekunde wurde sie nervöser und widerstand nur mit Mühe der Versuchung, sich für alle ihre Lügen zu entschuldigen.
Eichhörnchen liefen über den Rasen. Ein Schmetterling flatterte unters Verandadach, landete kurz auf der Karaffe und flog weiter.
»Mrs. Moreno?« fragte Holly schließlich, und diesmal war das Zittern in ihrer Stimme nicht gespielt. »Stimmt was nicht?«
Viola warf den zusammengerollten Grashalm fort. »Ich überlege nur, wie ich es ausdrücken soll.«
»Was meinen Sie?« erkundigte sich die Journalistin beunruhigt.
Viola kehrte langsam zum Tisch zurück. »Sie haben mich gefragt, warum Jim - Ihr Bruder nicht mehr unterrichtet. Ich antwortete, es liege an seinem Lotteriegewinn, aber eigentlich stimmt das nicht. Wenn er heute an der Arbeit des Lehrers ebensolchen Gefallen fände wie vor einigen Jahren - wie noch vor einem Jahr -, so wäre er selbst dann in der Schule geblieben, wenn er hundert Millionen Dollar gewonnen hätte.«
Sie hat mich nicht durchschaut, dachte Holly, und tiefe Erleichterung durchströmte sie. »Weshalb kündigte er?«
»Er verlor einen Schüler.«
»Ich verstehe nicht ganz …«
»Jemand aus der achten Klasse, Larry Kakonis. Ein sehr intelligenter Junge mit einem guten Herzen. Aber er hatte familiäre Probleme. Sein Vater schlug die Mutter, schon seit Jahren, und Larry glaubte, ihn daran hindern zu müssen. Doch dazu war er nicht in der Lage. Er fühlte sich verantwortlich, obwohl ihn überhaupt keine Schuld traf. Diese Einstellung beschreibt ihn ziemlich gut: Er zeichnete sich durch großes Verantwortungsbewußtsein aus.«
Viola griff nach ihrem Limonadenglas, ging wieder zum Rand der Veranda und blickte erneut über den Rasen. Auch diesmal schwieg sie eine Zeitlang.
Holly wartete.
»Die Mutter war ein willfähriges Opfer«, erklärte Viola nach einer Weile. »Sie versuchte überhaupt nicht, sich zu wehren. Ganz im Gegenteil: Sie forderte die brutale Behandlung durch ihren Mann geradezu heraus. In dieser Hinsicht wies sie eine ähnliche Verhaltensstörung auf wie der Vater. Larry liebte und respektierte seine Mutter, aber er begriff allmählich, daß sie auf einer unterbewußten Ebene geschlagen werden wollte, und diese Erkenntnis kam einem Schock für ihn gleich.«
Plötzlich wußte Holly, was geschehen war, und alles in ihr sträubte sich dagegen, den Rest zu hören.
»Jim hat sich mit dem Jungen so große Mühe gegeben, und damit meine ich nicht nur den Englischunterricht beziehungsweise das Akademische. Larry öffnete sich ihm auf eine Art und Weise, wie er sich noch nie zuvor jemandem geöffnet hatte. Jim half ihm zusammen mit Dr. Lansing, einem Psychologen, der in mehreren Schuldistrikten tätig ist, auch in unserem. Larry schien gute Fortschritte zu machen, seine Mutter und sich selbst besser zu verstehen. Doch eines Abends, am 15. Mai im letzten Jahr - meine Güte, sind wirklich schon fünfzehn Monate vergangen? -, nahm Larry Kakonis ein Gewehr aus der Sammlung seines Vaters, lud es, schob sich den Lauf in den Mund und drückte ab.«
Holly zuckte heftig zusammen und fühlte sich innerlich getroffen, gleich zweimal. Erstens: Es erschütterte sie, daß ein Dreizehnjähriger, der noch sein ganzes Leben vor sich hatte, Selbstmord beging. In jenem Alter erschienen kleine Probleme groß und gewaltig, und
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