Die Kälte Des Feuers
wirklich ernste Schwierigkeiten kamen einer Katastrophe gleich, die keinen Platz für Hoffnung ließ. Holly trauerte um Larry Kakonis, obwohl sie ihn überhaupt nicht kannte, und gleichzeitig spürte sie Zorn: Dem Jungen war nicht genug Zeit geblieben, um zu lernen, daß man alle Probleme lösen konnte und daß das Leben letztendlich mehr Freude bot als Verzweiflung. Zweitens: Etwas in ihr versteifte sich, als sie das Todesdatum hörte.
Der fünfzehnte Mai.
Zwölf Monate später, am 15. Mai dieses Jahres, bewahrte Jim Ironheart zum erstenmal jemanden vor dem Tod. Sam und Emily Newsome. Atlanta, Georgia. Ohne sein Eingreifen wären sie von dem Soziopathen Norman Rink erschossen worden.
Holly war plötzlich nicht mehr imstande, still zu sitzen. Sie erhob sich und ging zu Viola, die noch immer am Ende der Veranda stand. Gemeinsam beobachteten sie die Eichhörnchen.
»Jim gab sich die Schuld«, sagte Viola leise.
»An Larry Kakonis’ Tod? Er trug überhaupt keine Verantwortung dafür.«
»Trotzdem machte er sich Vorwürfe. So ist er eben. Aber die Reaktion erschien zu heftig, selbst für Jim. Nach Larrys Selbstmord verlor er das Interesse am Unterricht. Er glaubte nicht mehr, dort wirklich etwas leisten zu können. Er erzielte viele Erfolge, mehr als jeder andere Lehrer, den ich kenne, aber jener eine Fehlschlag war zuviel für ihn.«
Holly erinnerte sich an die Kühnheit, mit der Ironheart den jungen Billy Jenkins zur Seite gerissen und vor dem heranrasenden Kleinlieferwagen gerettet hatte. Dabei hat er gewiß nicht versagt, dachte sie.
»Er gab sich ganz dem Kummer hin«, fügte Viola hinzu, »konnte sich einfach nicht von seiner Niedergeschlagenheit befreien.«
Der Mann, den Holly in Portland gesehen hatte, wirkte keineswegs deprimiert. Geheimnisvoll, ja, und distanziert. Aber er bewies einen Sinn für Humor und zeigte ein freundliches Lächeln.
Viola trank einen Schluck Limonade. »Seltsam, jetzt schmeckt sie zu bitter.« Sie stellte das Glas auf den Beton zu ihren Füßen und wischte sich die feuchte Hand an der Hose ab. Erneut begann sie zu sprechen, zögerte und brachte schließlich hervor: »Dann wurde er ein wenig … seltsam.«
»Seltsam? Wie meinen Sie das?«
»Er kapselte sich ab. Schwieg fast immer. Er begann mit einer Kampfsport-Ausbildung. Taekwondo. Nun, ich nehme an, daß sich viele Leute dafür interessieren, aber es war so untypisch für Jim.«
Nicht für den Jim Ironheart, den ich kenne, dachte Holly.
»Außerdem steckte mehr dahinter als nur ein Hobby, ein Zeitvertreib«, fuhr Viola fort. »Jeden Tag nach der Schule übte er irgendwo in Newport Beach. Es gewann fast das Ausmaß einer Besessenheit, und ich machte mir Sorgen um ihn. Deshalb freute ich mich sehr, als er im Januar in der Lotterie gewann. Sechs Millionen Dollar! Was für ein enormes Glück! Soviel Geld … Ich hoffte, daß er dadurch wieder zu sich selbst fände, die Depressionen überwinden würde.«
»War das der Fall?«
»Nein. Jim schien weder überrascht noch glücklich zu sein. Er gab seine Stellung auf, kaufte sich ein Haus, verließ das Apartment… und zog sich noch weiter von seinen Freunden zurück.« Viola sah Holly an und lächelte zum erstenmal seit einer ganzen Weile. »Aus diesem Grund war ich so aufgeregt, als Sie mir erzählten, daß Sie seine Schwester sind - eine Schwester, von der er überhaupt nichts weiß. Vielleicht können Sie bewerkstelligen, was dem Lotteriegewinn nicht gelang.«
Erneut flutete Schuld angesichts der Lüge in Holly empor, und sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoß. Sie hoffte, daß Viola nur ein Zeichen geschmeichelter Verlegenheit darin sah. »Das wäre wunderbar.«
»Sie können bestimmt helfen. Er ist allein. Oder hat zumindest das Gefühl, allein zu sein. Darin besteht ein Teil seines Problems. Nun, eine Schwester würde seine Einsamkeit beenden. Gehen Sie noch heute zu ihm.«
Holly schüttelte den Kopf. »Heute nicht, aber bald. Ich … muß erst eine Vertrauensbasis schaffen. Sie erzählen Jim doch nicht von mir, oder?«
»Natürlich nicht, meine Liebe. Es ist Ihr gutes Recht, als erste mit ihm zu reden. Bestimmt wird es ein wundervoller Augenblick sein.«
Hollys Lächeln schien von zwei Kunststofflippen zu stammen, die sie sich auf den Mund geklebt hatte, so falsch, als gehörten sie zu einem Halloweenkostüm.
Einige Minuten später, als sich Holly an der Eingangstür verabschiedete, legte ihr Viola die Hand auf die Schulter. »Bitte verstehen Sie
Weitere Kostenlose Bücher