Die Kälte Des Feuers
ich sie einfach und tröste mich mit dem Wissen, daß Joe im Himmel ist und sich über meine Zufriedenheit freut.«
»Tut mir leid«, sagte Holly. »Ich wußte nicht, daß sie Witwe sind.«
»Natürlich wußten Sie das nicht, meine Liebe. Woher auch? Nun, seit seinem Tod sind viele Jahre vergangen. Er starb 1969, als ich gerade erst dreißig war und er zweiunddreißig. Mein Mann diente bei den Marines, und zwar voller Stolz. Leider fiel er in Vietnam.«
Holly begriff plötzlich, daß viele früher Opfer jenes Krieges jetzt um die Fünfzig gewesen wären. Die Witwen hatten weitaus mehr Jahre ohne ihre Ehemänner verbracht als mit ihnen. Wie lange dauerte es noch, bis der Konflikt in Vietnam ebenso historisch wurde wie die Kreuzzüge von Richard Löwenherz oder die peloponnesischen Kriege?
»So schade«, murmelte Viola, und die Journalistin vernahm ein leichtes Vibrieren in ihrer Stimme, das sofort verschwand, als sie hinzufügte. »Es ist so lange her …«
Holly hatte sich bei dieser Frau ein ruhiges und friedliches Leben vorgestellt, warm und behaglich, mit kleinen Freuden und häufigem Lächeln, aber offenbar war das nur ein Aspekt der Wirklichkeit. Der feste, liebevolle Tonfall, in dem Viola von Joe als >mein Mann< sprach, wies darauf hin, daß die Zeit ihre Erinnerungen an ihn nicht trüben konnte und daß sie seit damals keinen anderen Mann geliebt hatte. Joes Tod hatte wohl zu einer grundsätzlichen Veränderung in ihrem Leben geführt. Ganz offensichtlich war sie von Natur aus optimistisch und offen, aber in ihrem Herzen verharrte ein tragischer Schatten.
Jeder gute Journalist mußte sich gleich zu Anfang seiner Karriere einer wichtigen Erkenntnis stellen: Menschen sind praktisch nie nur das, was sie zu sein scheinen; ihre individuelle Komplexität steht der des Lebens in nichts nach.
Viola nippte an ihrer Limonade. »Zu süß. Ich gebe immer zuviel Zucker hinein. Entschuldigen Sie bitte.« Sie stellte das Glas ab. »Erzählen Sie mir jetzt von dem Bruder, den Sie suchen. Ich bin wirklich neugierig darauf.«
»Wie ich schon sagte, als ich Sie von Portland aus anrief: Man hat mich als Kind adoptiert. Meine Pflegeeltern waren wunderbar, und ich liebe sie ebenso, wie ich meine leiblichen Eltern geliebt hätte, aber …«
»Sie wünschen sich natürlich, Ihre richtigen Eltern kennenzulernen.«
»Ich … ich habe das Gefühl, daß tief in mir etwas leer und … dunkel ist«, erklärte Holly und versuchte, nicht zu dick aufzutragen.
Sie war nicht von der Mühelosigkeit überrascht, mit der sie log. Es verblüffte sie vielmehr, mit welchem Geschick sie dabei vorging. Täuschung war ein nützliches Werkzeug, um Informationen von jemandem zu bekommen, der unter anderen Umständen vielleicht nicht die Bereitschaft zeigte, offen Auskunft zu geben. So bekannte und verdienstvolle Journalisten wie Joe McGinnes, Joseph Wambaugh, Bob Woodward und Carl Bernstein hatten an irgendeinem Punkt ihrer beruflichen Laufbahn auf die Notwendigkeit hingewiesen, bei Gesprächen mit Interviewpartnern unehrlich zu sein, um der Wahrheit auf den Grund zu kommen. Aber Holly war nie besonders gut darin gewesen. Zumindest blieb genug Anstand in ihr, um sich zu schämen ein Gefühl, das sie sorgfältig vor Viola verbarg.
»Die Adoptionsdokumente enthielten nur die notwendigsten Angaben, aber ich konnte trotzdem herausfinden, daß meine leiblichen Eltern vor fünfundzwanzig Jahren starben, als ich acht war.« Diese Angaben betrafen Jim Ironhearts Eltern, die ums Leben kamen, als er gerade erst seinen zehnten Geburtstag hinter sich gebracht hatte. Die Informationen stammten aus Berichten über seinen Lotteriegewinn. »Ich habe also keine Möglichkeit mehr, sie kennenzulernen.«
»Wie schrecklich. Jetzt tun Sie mir leid.« Echtes Mitgefühl klang in der sanften Stimme Violas.
Holly fühlte sich immer elender. Mit dieser falschen Tragödie schien sie Violas Kummer zu verspotten. Aber sie folgte dem eingeschlagenen Weg und fuhr fort: »Es ist nicht so schlimm, wie ich zunächst dachte. Immerhin habe ich einen Bruder, wie ich Ihnen am Telefon sagte.«
Viola stützte die Ellenbogen auf den Tisch und beugte sich vor. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen, Ihren Bruder zu finden?«
»Nein, ich glaube nicht. Wissen Sie, ich habe ihn bereits gefunden.«
»Das ist ja wundervoll!«
»Aber … ich fürchte mich davor, mit ihm zu sprechen.«
»Sie fürchten sich? Warum?«
Holly blickte über den Rasen, schluckte mehrmals und erweckte dadurch
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