Die Kälte Des Feuers
den Eindruck, mit ihren aufgewühlten Gefühlen zu ringen. Himmel, ich habe nicht gewußt, daß ich eine so gute Schauspielerin bin. Tief in ihrem Innern verachtete sie sich dafür. Als sie sprach, gelang ihr ein subtiles und überzeugendes Zittern in der Stimme. »Soweit ich weiß, habe ich keinen anderen Blutsverwandten auf der ganzen Welt. Nur er verbindet mich mit meinen toten Eltern. Er ist mein Bruder, Mrs. Moreno, und ich liebe ihn. Ja, ich liebe ihn, obwohl ich ihm nie begegnet bin. Aber wenn ich jetzt an ihn herantrete, ihm mein Herz öffne … Vielleicht weist er mich ab. Vielleicht will er überhaupt keine Schwester. Vielleicht mag er mich nicht.«
»Gütiger Himmel, natürlich wird er Sie mögen! Warum sollte er eine nette junge Frau wie Sie nicht sympathisch finden? Warum sollte er nicht entzückt darüber sein, jemanden wie Sie als Schwester zu bekommen?«
Ich werde dafür in der Hölle schmoren, dachte Holly zerknirscht.
Laut sagte sie: »Nun, es mag töricht klingen, aber ich bin wirklich besorgt. Mein erster Eindruck, den ich auf andere Leute mache, ist nie besonders gut…«
»Auf mich haben Sie einen ausgezeichneten Eindruck gemacht.«
Jemand soll mich bespucken. »Ich halte es für besser, kein Risiko einzugehen. Ich möchte soviel wie möglich über ihn erfahren, bevor ich an seine Tür klopfe. Ich möchte wissen, was ihm gefällt oder nicht, was er von … von verschiedenen Dingen hält und so weiter. Himmel, Mrs. Moreno, diese Sache darf ich auf keinen Fall verpatzen.«
Viola nickte. »Vermutlich sind Sie zu mir gekommen, weil ich Ihren Bruder kenne. Ging er in eine meiner Klassen?«
»Sie unterrichten hier in Irvine Geschichte an einer Mittelschule …«
»Ja, das stimmt. Dort arbeite ich seit Joes Tod.«
»Nun, mein Bruder war keiner Ihrer Schüler, sondern Englischlehrer in der gleichen Schule. Ich habe seine Spuren bis dorthin verfolgt und festgestellt, daß Ihr Unterricht zehn Jahre lang neben seinem Zimmer stattfand. Sie kennen ihn gut.«
Viola lächelte erfreut. »Sie meinen Jim Ironheart!«
»Ja, so heißt er. Mein Bruder.«
»Meine Güte, das ist herrlich und perfekt!«, entfuhr es Viola. Ihre Reaktion erschien Holly so übertrieben, daß sie verwirrt blinzelte und nicht wußte, was sie sagen sollte.
»Er ist ein guter Mann«, fügte Viola mit ehrlicher Zuneigung hinzu. »Ich hätte mir einen Sohn wie ihn gewünscht. Ab und zu kommt er zum Abendessen, allerdings nicht mehr so häufig wie früher. Ich koche für ihn, bemuttere ihn. Oh, ich bin wirklich froh.« Ein Hauch von Melancholie zeigte sich in
Violas Gesicht, und sie schwieg einige Sekunden lang. »Wie dem auch sei… Sie könnten sich keinen besseren Bruder vorstellen. Er gehört zu den nettesten Leuten, die ich jemals kennengelernt habe. Ein hingebungsvoller Lehrer, sanft, freundlich und geduldig.«
Holly dachte an Norman Rink, den Psychopathen, der im vergangenen Mai in einem Lebensmittelladen von Atlanta den Verkäufer und zwei Kunden umgebracht hatte und dann seinerseits getötet wurde - von dem sanften, freundlichen Jim Ironheart. Acht Schüsse aus einer Schrotflinte, aus kürzester Entfernung. Vier Schüsse, nachdem Rink bereits tot war. Viola Moreno kannte den Mann sicher gut, aber offenbar ahnte sie nicht, zu welchem Zorn er fähig war.
»Ich habe viele gute Lehrer gesehen, aber keiner nahm solchen Anteil an seinen Schülern wie Jim Ironheart. Er kümmerte sich so um sie, als seien es seine eigenen Kinder.« Viola lehnte sich zurück, hing Erinnerungen nach und schüttelte den Kopf. »Er gab ihnen viel und wollte ihnen ein besseres Leben ermöglichen, und nur die schlimmsten Außenseiter reagierten nicht auf ihn. Er unterhielt Beziehungen zu den Schülern, für die seine Kollegen ihre Seele verkauft hätten. Viele von uns versuchen, Kumpel der Kinder zu sein, aber das klappt eigentlich nie.«
»Warum unterrichtet er nicht mehr?«
Viola zögerte, und ihr Lächeln verblaßte. »Teilweise lag es an der Lotterie.«
»Lotterie?«
»Sie wissen nichts davon?«
Holly runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.
»Im Januar hat er sechs Millionen Dollar gewonnen«, sagte Viola.
»Donnerwetter!«
»Das erste Los seines Lebens - und gleich ein Volltreffer.«
Holly verwandelte ihre gespielte Überraschung langsam in Besorgnis. »O Gott! Er denkt bestimmt, daß ich nur zu ihm komme, weil er plötzlich reich geworden ist.«
Viola versuchte, sie zu beruhigen. »Nein, nein. Er denkt nie das
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