Die Kälte in dir (German Edition)
los, dass sie dabei waren, etwas Unerlaubtes zu tun.
9
Arthur Lorenz hatte die Praxis voller Leute sitzen, doch Kristinas Dienstausweis regelte das. Sie erntete böse Blicke, weil man sie vor all jenen ins Sprechzimmer des Arztes ließ, die schon lange Zeit in dem engen Wartezimmer verbrachten und sich durch den zerfledderten Lesezirkel arbeiteten.
Daniel war ihr hinterhergelaufen. Freiwillig, obwohl sie ihm vor dem Betreten des Gebäudes gestanden hatte, dass sie gegen eine Dienstanordnung verstieß. Er hatte stumm genickt.
Dr. Lorenz war ein Mittfünfziger, dessen Sommersprossengesicht ihm eine jugendliche Vorwitzigkeit verlieh. Er hatte etwas Sympathisches an sich, das ihn zweifelsfrei zu einem Arzt machte, dem die Patienten vertrauten.
Im Gegensatz zu dem Schönheitschirurgen Dr. Bennour übte Lorenz seinen Beruf in einem Sprechzimmer aus, in dem es nach Desinfektionsmitteln und mit Talkum bepuderten Gummihandschuhen roch. Hinter ihm sperrten die altbekannten Lamellenvorhänge das Sonnenlicht aus.
Der überraschende Besuch der Polizei, den seine Sprechstundenhilfe zwischen zwei Patienten geschoben hatte, schien ihn nicht glücklich zu stimmen. Doch er versuchte, das Stirnrunzeln mit einem Lächeln zu kaschieren. Die nagende Unruhe in seinem Blick blieb bestehen. Ebenso ein fortwährendes Zucken seiner mit roten Härchen übersäten Finger.
Manche Leute reagierten allergisch auf Polizeibeamte, auch wenn sie nichts verbrochen hatten. Die Kunst lag darin, zu erkennen, ob dieses Verhalten vom schlechten Gewissen gesteuert wurde oder nicht.
»Doch nichts Schlimmes, hoffe ich?«, begann Dr. Lorenz und musste sich anstrengen, seine Aufmerksamkeit von Daniels lädierter Gesichtshälfte zurück auf Kristina zu lenken, deren Oberschenkel beinahe die Tischkante berührten.
»Leider ja«, antwortete sie.
»Oh«, stammelte er. »Wollen Sie sich setzen?«
Kristina lehnte ab, und auch Daniel verneinte, was den Arzt noch fahriger werden ließ. Offensichtlich war er es nicht gewohnt, zu den Leuten vor seinem Schreibtisch aufzublicken.
»Haben Sie in jüngster Zeit eine Carola Walz behandelt?«, fragte Kristina.
Dr. Lorenz benötigte drei Sekunden, bis er nickte. »Frau Walz, ja, natürlich. Ist ihr etwas passiert?«
»Wir haben sie heute Morgen tot aufgefunden«, erklärte Kristina nüchtern.
Daniel betrachtete sie kritisch, weil sie wieder den Vorschlaghammer ausgepackt hatte.
»Das ist … oh Gott. Wie sind Sie so schnell darauf gekommen, dass Sie meine Patientin ist … war?«
»Wussten Sie, dass sie eine Fettabsaugung in Betracht gezogen hat?«
»Ich darf darüber nicht mit Ihnen reden«, fiel ihm ein, und er presste die Lippen aufeinander.
»Bitte, Dr. Lorenz, ich respektiere Ihre Schweigepflicht, aber sie ist tot«, erinnerte Kristina. »Wir suchen einen Mörder, der nicht zum ersten Mal getötet hat, und Frau Walz wird vielleicht nicht sein letztes Opfer bleiben, wenn wir ihn nicht stoppen.«
Der Arzt wurde blass, seine Mundwinkel sackten nach unten. Für eine Sekunde sah er so aus, als erleide er einen Schlaganfall. »Ich … ich kann mir nicht vorstellen, dass die Krankheit von Carola Walz mit ihrer Ermordung zusammenhängt«, erwiderte er zögernd.
»Selbst wenn Sie es nicht für relevant halten, kann jeder Hinweis für uns hilfreich sein.«
Es bereitete ihm Probleme, weiter still auf dem Stuhl zu sitzen. Er fing an, merklich von rechts nach links zu rutschen, ohne dass es ihm selbst bewusst wurde.
»Sie hat mir gesagt, dass ein Schönheitschirurg aus der Sophienklinik, ein gewisser Dr. Bennour, sie an mich verwiesen hat.«
»Mit ihm habe ich bereits gesprochen«, klärte Kristina den Arzt auf, was bei ihm die Irritation erhöhte.
Nach anfänglichem Gestotter nahm er den Faden wieder auf. »So etwas ist oft tragisch … wenn jemand so sehr nach einem ansehnlichen Körper strebt, aber sein Krankheitsbild es nicht zulässt. Frau Walz litt an sekundärer Dyslipidämie, das wird Dr. Bennour Ihnen ja erklärt haben. Statistisch leidet jeder zehnte Deutsche darunter, der größte Teil, ohne es zu wissen. Ich habe ihr eine medikamentöse Behandlung in Verbindung mit einer Diät und einem Sportprogramm empfohlen. Sie schien sehr zuversichtlich, nachdem sie verstanden hat, dass sie gute Heilungschancen hatte. Wir wollten nächste Woche mit der Behandlung beginnen.«
Lorenz’ Beschreibung der Mittvierzigerin unterschied sich erneut von der ihrer Mutter. Offensichtlich hatte Carola ihr nicht alles
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