Die Kälte in dir (German Edition)
darauf, diesen Vergleich ziehen zu können, aber Darja hatte ihn einmal davon kosten lassen. Ein einziges Mal, und letztlich war er dankbar, dass es dabei geblieben war. Seine staatliche Besoldung hätte eine Abhängigkeit nicht verkraftet.
Darja!
Sie war seine einzige Droge, und keine Therapie hatte bislang dagegen geholfen.
Die Hanglage erlaubte es Daniel, einen Ausschnitt der Terrasse einzusehen, auf der sich die Familie Lorenz zum Abendessen versammelte. Der Anblick ließ seinen Magen so laut knurren, dass er befürchtete, sie würde sich nach ihm umdrehen. Doch die vier machten sich über ihre gefüllten Teller her, ohne auch nur einmal in seine Richtung zu blicken.
Wann hatte er an diesem Tag, abgesehen von den Tabletten, etwas gegessen? Er kam auf ein lieblos belegtes Käsebrötchen in der Polizeikantine, während im Präsidium die Pressekonferenz abgehalten worden war. Die Erinnerung an die lappige Stulle verschlimmerte das Gefühl.
Um sich abzulenken, konzentrierte er sich auf das zwanzig Meter entfernte Familienidyll. Die Ehefrau sah jung aus. Er schätzte, sie und ihren Mann trennten mindestens zehn Jahre. Die Kinder schienen im Grundschulalter zu sein.
Daniel entschied, fürs Erste genug gesehen zu haben. Er wusste, wohin sich Dr. Lorenz begab, wenn er abends seine Praxis abschloss. Außerdem waren Familienväter laut Fallanalytik in der Regel kaum Serientäter. Das war zwar kein triftiges Argument, den Arzt gänzlich auszuschließen, aber Daniel hatte diesbezüglich auch nicht die Verantwortung. Er quälte sich allein Kristina zuliebe hier herum. Und so groß war die Zuneigung nun auch wieder nicht, dass er sich die Nacht um die Ohren schlug. Außerdem konnte sein lädiertes Äußeres in der noblen Wohngegend das Misstrauen der betuchten Anwohner erregen. Es wäre äußerst peinlich, wenn jemand auf die Idee käme, die Polizei zu rufen.
Auf dem Rückweg, die endlosen Stufen hinab in die Innenstadt, während er wieder eintauchte in diese zähe, abgasgetränkte Luft, wuchs jedoch mit jedem Schritt seine Unruhe.
Er war noch nicht fertig.
Auch wenn er keine rationelle Erklärung für dieses Gefühl fand. Lorenz war so verdammt nervös gewesen, und Daniel konnte sich nicht vorstellen, dass das die übliche Verhaltensweise des Arztes war. Es waren Kristinas Dienstausweis und ihre Fragen, die ihn aufgeschreckt hatten. Trotzdem ging der Arzt nach Hause, als wäre nichts gewesen. Aß mit seiner Familie zu Abend und brachte womöglich in diesem Moment die Kinder ins Bett. Und danach? War das alles eine über Jahre hinweg einstudierte Inszenierung, um nach außen den Schein zu wahren? Gegenüber den Nachbarn und dem Rest der Gesellschaft, die Arthur Lorenz als kompetenten Heiler schätzten?
In seinen zwei Jahren Polizeiausbildung hatte Daniel bislang nur bedingt die Erfahrung sammeln können, die dieses eindringliche Gespür rechtfertigte, das jetzt in seinem Inneren zwickte. Aber es war da. Jetzt nach Hause zu gehen, kam ihm mit einem Mal wie eine dumme Nachlässigkeit vor. Die lang ersehnte Dusche, die Pflege seiner Blessuren, das Füllen seines grummelnden Magens, dies alles musste noch warten. Nun schleppte er sich schon den ganzen Tag so verdreckt und übel riechend durch die Gegend, da machte eine Stunde mehr oder weniger nichts mehr aus.
Unvermittelt hatte er es eilig. Er holte den Dienstwagen, den er erneut am Nordausgang des Hauptbahnhofs abgestellt hatte, und fuhr mit einsetzender Dämmerung zurück in die Panoramastraße. Diesmal parkte er direkt gegenüber von Lorenz’ Hauseingang und suchte sich einen Radiosender mit Rockmusik, die ihn wachhielt.
Ein Geräusch erregte seine Aufmerksamkeit und machte ihn unverzüglich wach. Daniel war nicht sicher, ob er eingenickt war, geschweige denn, wie lange dieser Dämmerzustand angedauert hatte. Sein Nacken schmerzte, doch ihm blieb keine Zeit, sich zu bemitleiden.
Bei der Familie Lorenz öffnete sich das Garagentor und Daniel rutschte im Sitz nach vorn, um nicht gesehen zu werden. Sekunden später leuchteten zwei Autoscheinwerfer in seinen Wagen. Er reckte früh genug seinen Hals, um den Fahrer zu erkennen.
Der Arzt machte sich auf den Weg zu einer späten Visite.
Es war fast zehn Uhr geworden. Daniel ließ den Motor an und folgte den roten Rücklichtern des dunklen M-Klasse-Mercedes.
10
Nachts fror er. Egal wie heiß der Tag gewesen war. Hier gab es nicht genug Decken. Ein Feuer im Kamin würde ihn verraten, genau wie die Ölheizung. Der
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