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Die Känguru Chroniken

Die Känguru Chroniken

Titel: Die Känguru Chroniken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc-Uwe Kling
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und zerstückelt am Boden. »Haben Sie schon mal darüber nachgedacht …«, röchelt einer, dem schon das Blut aus dem Hals spritzt, »… zu einer privaten Krankenkasse zu arrghh …«
    Das Känguru versetzt ihm den Gnadenstoß.
    »Alles okay?«, fragt mich das Känguru. »Hast du ihnen geantwortet? Hast du Statistiken gelesen? Bist du infiziert?«
    »Nein …«, sage ich noch schwach, bevor ich wegdämmere. »Und du? Wie geht es …«
    »Wie soll es mir schon gehen?«, fragt das Känguru und schnallt angewidert den Rasenmäher ab. »Mir scheint die Sonne aus dem Arsch.«
    Es packt mich und schleppt mich zurück in die Kneipe. Alles wird dunkel.

    Als ich später mit dem Kopf auf dem Tresen aufwache, ist das Känguru schon beim Frühschoppen und streitet die komplette Begebenheit ab. Es stützt mich auf dem Weg nach Hause. Wir machen uns noch ’ne Portion Spaghetti vor der Tiefschlafphase. Wir mampfen und scherzen. Plötzlich spüreich ein Drücken in der Magengegend. Ich falle rücklings auf den Küchentisch. Ein kleiner Soziologe bricht aus meinem blutenden Brustkorb und schreit: »Plagen Sie Existenzängste? Drücken Sie finanzielle Sorgen? Haben Sie manchmal Alpträume?«

»Ich laufe durch einen Wald. Ich atme ein. Ich atme aus. Ich laufe durch einen ruhigen Wald.«
    Das Känguru poltert zur Tür herein.
    »Was geht’n hier?«, ruft es.
    »Pssst«, flüstere ich, ohne mich zu bewegen. Ich liege im Bett. Meine Augen sind bedeckt von einer dicken, blauen Maske. Rotlicht strahlt auf meinen Kopf. Die Vorhänge sind zugezogen, meine Beine habe ich angewinkelt auf zwei Decken liegen.
    »Ist das ’ne Kunstinstallation?«, flüstert das Känguru. »Toter auf ’nem Maskenball oder so?«
    »Ich hab Migräne«, presse ich wenig erheitert zwischen meinen Zähnen hervor, »und jetzt sei leise, während du die Tür hinter dir zuziehst und aus meinem Zimmer verschwindest.«
    »Is ja gut«, sagt das Känguru. »Eine Laune hat der Herr.«
    Es verschwindet in sein Zimmer und legt Nirvana auf.
    »Aus«, murmle ich. »Ausmachen …«
    Jetzt grölt das Känguru auch noch mit. Außerdem beginnt es zu hämmern und zu bohren.
    »Ruhe!«, schreie ich.
    Das Känguru reißt die Tür auf und nimmt seine Ohrschützer runter.
    »Was?«, schreit es.
    »Pssst«, sage ich.
    »Was?«, flüstert das Känguru.
    »Ruhe«, sage ich.
    Das Känguru dreht die Musik leiser.
    »Aber ich muss meine Installation noch fertigzimmern, für das Performance-Festival heute Abend.«
    »Woanders«, murmle ich schwach.
    »Woanders …«, wiederholt das Känguru grübelnd.
    »Mhm.«
    »Hm.«
    Dann verlässt es die Wohnung. Ich atme tief aus.
    »Ich atme ein. Ich atme aus. Ich stehe auf einem einsamen Berg. Ich atme ein. Ich atme aus. Ich bin völlig ruhig. Ich at…«

    Ich wache auf. Das Känguru ist wieder da, und es hat Besuch mitgebracht.
    »Sie wollten das Werk ja vorher sehen«, flüstert das Känguru. »Ich nenne es ›Der moderne Mensch‹.«
    »Sehr interessant«, dröhnt eine mir fremde Stimme.
    »Pssst!«, sage ich.
    »Das Verlangen nach Ruhe«, flüstert die fremde Stimme.
    »Pssst«, sage ich.
    »Die ihm natürlich verwehrt bleibt«, sagt das Känguru.
    Ich stöhne.
    »Tragisch«, sagt die Stimme.
    »Die Maske sehe ich als Zeichen der Entfremdung, der Entmenschlichung. Sie beziehen sich hier im theoretischen Überbau auf Marx, nehme ich an.«
    »Unter anderem«, sagt das Känguru.
    »Ruhe«, murmle ich.
    »Das Rotlicht als Symbol für die alltägliche Prostituierung?Wahrscheinlich in Rekursion auf Foucaults Sexualität und Wahrheit ?«
    »Sicher, sicher. Aber natürlich auch als die Verheißung einer roten Sonne eines neuen sozialistischen Morgens«, sagt das Känguru.
    »Woanders«, murmle ich.
    »Ein in seiner Tragik optimistisches Werk. Aber könnte eben dieses Licht nicht auch für die blutrote Sonne der Apokalypse stehen?«
    »Das liegt im Auge des Betrachters. Die Bedeutungsebenen sind hier sehr vielschichtig.«
    »Ich gehe durch einen ruhigen Wald«, murmle ich.
    »Die Sehnsucht nach einer Rückkehr zur Natur. Sehr schön.«
    »Dazu müssen Sie noch beachten, wie er die Beine, quasi in angedeuteter Embryonal-Haltung, angewinkelt hat«, sagt das Känguru.
    »Zurück in den Mutterleib«, sagt die Stimme. »Wollen wir das nicht alle?«
    Beide lachen.
    »Ich atme ein. Ich atme aus«, sage ich.
    »Der Wunsch, die Komplexität der Realität auf ein beherrschbares Maß herunterzubrechen. Luhmann erkenne ich. Max Weber auch. Hannah Arendt.

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