Die Känguru Chroniken
»Selbstverteidigungs-Tai-Chi« beigebracht worden ist, verwirre ich sie erst mit der Figur »Wildgans im Flug«, deute dann plötzlich ins Nichts, und sobald ihr Blick meinem Finger folgt, trete ich ihr gegen das Schienbein und renne davon.
»Bleiben Sie doch stehen!«, schreit sie und nimmt die Verfolgung auf. »Ich habe nur ein paar Fragen an Sie!«
Eiskalt spüre ich ihren Soziologen-Atem in meinem Nacken.
»Haben Sie sich vor kurzem ein neues Mobilfunkgerät gekauft? Wenn ja, wann kaufen Sie normalerweise das nächste? 28 Tage später? 28 Wochen später? 28 Monate …«
Ich stecke mir meine Finger tief in die Ohren und singe Kinderlieder, um der Angst Herr zu werden. Wir sind allein auf der Straße. Die Fensterläden der Anwohner sind alle fest verschlossen, die Türen der Geschäfte sind verbarrikadiert.
»Wenn am Sonntag Wahl wäre, würden Sie dann am Montag eine Digitalkamera kaufen?«
Ich trommle im Rennen gegen die Bretter, schreie und flehe um Einlass. Niemand regt sich.
»Welchen durchschnittlichen Zufriedenheitswert erreicht ihr Leben auf der Jo-Jo-Skala?« Die Stadt befindet sich fest im Würgegriff der Meinungsforschungsinstitute.
»Wie oft haben Sie Geschlechtsverkehr? Wie lang? Mit wem? Mit wie vielen? Und wozu? Und wenn Sie keinen Sex haben, warum sind Sie so eine Lusche?«
Von ihrem Geschrei angelockt, tauchen aus allen Ecken der Stadt noch mehr Soziologen auf und schließen sich der Hetzjagd an:
»Wie ist das Verhältnis zu Ihrer Mutter?«, »Wie viel verdienen Sie?«, »Verdienen Sie mehr als Ihr Nachbar?«, »Wie viele Zahnbürsten stehen in Ihrem Badezimmer?«, »Sind Sie glücklich?«, »Haben Sie schon einen digitalen Bilderrahmen, und wenn nicht, planen Sie sich einen zu kaufen?«, »Nennen Sie alle Biersorten, die Ihnen spontan einfallen«, »Nennen Sie uns die 100 dümmsten Deutschen«, »Würden Sie der folgenden Aussage zustimmen: Es gibt zu viele davon«, »Wie oft machen Sie sich Essen im Mikrowellenherd warm, und wie schnell müssen Sie davon kotzen? 28 Sekunden später? 28 Minuten später? 28 Stunden …«
Plötzlich fällt ein Schuss. Aus einem Fenster im fünftenStock eines Wohnhauses lugt ein Gewehrlauf. Ein Soziologe hält sich die blutende Schulter, da wird ein zweiter von einem Schuss getroffen und geht zu Boden. Im Fallen fragt er noch: »Welche Patronen verwenden Sie? Wie oft laufen Sie Amok? Einmal im Monat, einmal in der Woche, häufiger als einmal in der Woche?«
Die Hälfte der Soziologenmeute stürmt nun das Haus.
»Hatten Sie eine schwere Kindheit?«, »Spielen Sie Killerspiele?«, »Waren Sie im Schützenverein?«
Der Rest der Rotte rennt weiter hinter mir her.
»Ihre Postleitzahl bitte!«, »Ein Pfennig für Ihre Gedanken!«, »Wer ist Ihrer Meinung nach die geilste deutsche Wetterfee?«, »Geben Sie uns Ihre Adresse und Sie können eine Packung Gummibärchen gewinnen!«
Da sehe ich ein Licht in der Ferne. Ein Einkaufszentrum! Ich renne darauf zu. Ich trete in die Lichtschranke. Die Glastür öffnet sich. Ich rette mich hinein und blockiere den Eingang mit den riesigen »Ihre Meinung ist uns wichtig«-Boxen. Am Ende meiner Kräfte lasse ich mich auf den Boden fallen und atme tief durch. Es schlägt zwölf Uhr. Die Tito-&-Tarantula-Coverband rockt los. Und da kriechen sie hervor. Hinter den Regalen. Unter den Rolltreppen. Aus den Kühltruhen. Und ich weiß, dass es um mich geschehen ist. Die Soziologenmeute kreist mich ein, und im Chor fragen sie: »Wer ist besser: Beckmann oder Kerner?«
Sie haben mich. Ich hauche eine Antwort. Da springt die Rolltreppe an. Darauf steht das Känguru. Es hat ein rotes Tuch um seine Stirn gewickelt und einen Rasenmäher aus der Gartenabteilung um seine Brust geschnallt. Böse funkeln die scharfen Schneidemesser in unsere Richtung. Vrrruuumm. Das Känguru zieht an der Strippe, der Motor springt an. Vrrruuumm.
»Party is over«, sagt das Känguru und hüpft von der Rolltreppe auf die Soziologen zu.
Ich schließe die Augen. Vrrruuumm.
»Auf einer Skala von 1 bis 10: Wie zufrieden sind Sie mit diesem Rasenmähähahharrgähh röchel …« Vrrruuumm.
»Denken Sie aufgrund der hohen Benzinpreise darüber nach, sich einen Elektorasenmääähährrrgg …« Vrrruuumm.
»Würden Sie dieses Produkt weiterempfehlen? Und wenn nicht, welchehharrgääeehh …« Vrrruuumm. Vrrruuumm.
»Glauben Sie, dass gewaltverherrlichende Filme die Psychäährrrghh …« Vrrruuumm.
Als alles vorbei ist, liegen die Soziologen jammernd
Weitere Kostenlose Bücher