Die Känguru-Offenbarung (German Edition)
keine Parteien neben unserer Partei. Wir Jungpioniere äh … drängeln uns in der Schlange nicht vor und helfen Frau Schabowski, ihre Einkäufe nach Hause zu tragen.«
»Ich meinte natürlich die Gebote von Gott«, sage ich.
»Ach«, sagt das Känguru. »Wir Jungpioniere sollen nicht ehebrechen und dergleichen?«
»Ja«, sage ich. »Oder so ähnlich.«
»Aber ich habe nur acht Jungpioniergebote genannt«, sagt das Känguru. »Ich möchte noch versuchen, die restlichen …«
»Neuntes Gebot«, sage ich. »Wir Jungpioniere sollen nicht begehren unseres Westens Waren, Fernsehsender, Reisefreiheiten noch alles, was unser Westen hat.«
»Quatsch«, sagt das Känguru. »Neuntes Gebot: Wir Jungpioniere lesen gerne FRÖSI.«
»Was?!?«
»FRÖSI!«, sagt das Känguru. » Fröhlich sein und singen! Das Pioniermagazin für Jungen und Mädchen der DDR!«
»Unglaublich.«
»Du kannst dir das als eine ideologisch etwas gefestigtere Variante von Yps vorstellen.«
»FRÖSI«, sage ich. »Noch nie zuvor schien mir der totale Zusammenbruch dieses Staates so gerechtfertigt wie jetzt. FRÖSI! Das ist ja wohl der uncoolste Name aller Zeiten. Was waren die Gimmicks? Ein 3-D-Bild von Honecker?«
»Wir hatten nur 2-D.«
Ich ziehe mein Handy aus der Tasche.
»Was tust du?«, fragt das Känguru. »Man darf in einer Kirche höchstens den Herrn anrufen, und ich glaube nicht, dass du seine Nummer hast.«
»Ich will nur eure Zehn Gebote googeln.«
»Zweifelst du etwa meine Worte an?«, fragt das Känguru.
»Ähm … ja. Genau.«
Das Känguru kuckt mir über die Schulter.
»Und?«, fragt es. »Stimmt alles, was?«
»Nein«, sage ich. »Aber es stimmt erschreckend viel. Das zehnte Gebot war ernsthaft: ›Wir Jungpioniere tragen mit Stolz unser blaues Halstuch.‹ Da kann man sich richtig vorstellen, wie sich der Erich mit der Margot zusammen den Kopf zerbrochen hat, denn der Walter hatte ja gesagt, sie sollen sich zehn Gebote ausdenken, doch gegen Ende ist ihnen wirklich gar nichts Gescheites mehr eingefallen, aber es konnte ja nicht angehen, dass der Sozialismus nur neun Gebote hat, wo doch das Christentum zehn hat, und ›Die neun Gebote‹, das klang auch irgendwie so arm, nach Mangel, und der Begriff ›Die zehn Gebote‹ war eben so schön vorgeprägt …«
»Zehntes Gebot: Wir Jungpioniere essen gerne Plätzchen«, sagt das Känguru. »Apropos Plätzchen. Willst du ein Plätzchen?«
Es zieht eine Dose mit selbstgemachtem Gebäck aus seinem Beutel.
»Gerne«, sage ich, beiße in einen Keks und muss feststellen, dass er härter ist als mein wurzelbehandelter Backenzahn.
»Ich vergaß zu erwähnen«, sagt das Känguru, »die Kekse sind noch vom letzten Jahr.«
»Aua.«
»Vielleicht auch von vor zwei Jahren.«
Das Känguru überlegt.
»Nee … vor zwei Jahren habe ich keine gebacken. Vor drei vielleicht. Nee, kuck mal!« Es lacht. »Auf die Dose habe ich ja den FRÖSI-Elefanten geklebt. Stimmt! Da war mal eine Plätzchen-Backmischung in der FRÖSI …«
Ich spucke den halbgegessenen Keks in ein Taschentuch.
»Schmeckt wie gebackene Urzeitkrebse, wenn du mich fragst …«
Eine Frau in einem seltsam antiquierten Kostüm kommt auf uns zu.
»Wenn Sie bitte etwas leiser …«, sagt sie freundlich. »Dies ist ein Ort der Ruhe und der Einkehr.«
»Keks?«, fragt das Känguru und hält ihr die Dose hin.
»Gerne«, sagt sie.
»Wir wollten hier einen Freund von uns besuchen«, sage ich. »Er sieht ein bisschen aus wie Sie.«
»KENNEN SIE DIESEN PINGUIN?!?«, ruft das Känguru und hält der kostümierten Frau das Passfoto unter die
Nase.
»Wie?«, fragt sie. »O ja! Natürlich.«
»Jetzt sagen Sie mir bitte nicht, das sei Ihr neuer Controller«, sage ich.
»Nein, nein«, sagt die Frau und lacht. »Unser Controller ist und bleibt der alte.«
Sie deutet mit dem Zeigefinger nach oben.
»Ihr Freund war bei uns, um sich von einem Burn-out zu kurieren.«
Widerwillig händige ich dem Känguru 19,90 Euro aus.
»Kuck mich nicht so an«, sagt das Känguru. »Du wolltest verdoppeln.«
»Der gute Pinguin war tatsächlich sehr gestresst«, sagt die Frau.
»Ach«, sage ich. »Niemand ist so gestresst, dass er nicht noch alle anderen damit nerven kann, wie gestresst er ist. Stress hat sich ja noch vor dem Wetter und dem Verkehr als Small-Talk-Thema Nummer eins etabliert.«
»Ja, ja«, sagt die Frau. »Wie war denn der Verkehr? Sind Sie gut hergekommen? Die Autobahnen hier in Mecklenburg-Vorpommern sind ja
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