Die Kaffeemeisterin
ihr geübt. Auch jetzt fiel ihr das Lesen schwer: Die kurzen Wörter erkannte sie sofort, aber die langen musste sie Buchstabe für Buchstabe laut lesen und dann die Silben einzeln zusammensetzen. Meistens ergab das Wort dann einen Sinn. Wenn sie mit ihrer Korrespondenz nicht weiterkam, lief sie zu Ludwig Haldersleben hinüber, der ihr dann zwar gleich einen ganzen Vortrag über das entsprechende Wort hielt, aber ihr stets zu Diensten war.
»Bürger!«, las sie nun, »haltet Euch fern von den unsittlichen Kaffeehäusern! Bleibt bei Euren Familien! Lasst Euch nicht verführen von losen Weibern und drogenhaltigen Getränken! Kommt zur Versammlung gegen die Unzucht in Kaffeehäusern am ersten Messetag um die Mittagsstunde …«
Johanna schüttelte angewidert den Kopf. Eine Strähne ihres roten Haares löste sich aus der Haube. So viel, wie sie heute schon hin und her gerannt war, war es kein Wunder, dass ihre Frisur nicht hielt. Rasch stopfte sie die Haare zurück in die Haube.
»Das sind doch alles Verrückte! Das nimmt denen keiner ab!« Hannes schlürfte seinen letzten Schluck Kaffee aus dem Becher. »Es steht nicht dabei, wer zu der Versammlung aufruft. Ob das wieder eine neue Attacke von Hoffmann ist?«
Sein breites Gesicht war von der Hitze im Raum noch geröteter als sonst.
Johanna zuckte mit den Schultern. Nein, das konnte sie sich nicht vorstellen. Gottfried hasste sie, weil er sie für die Schwierigkeiten, die er mit Elisabeth hatte, verantwortlich machte. Ein solcher Rundumschlag gegen sämtliche Kaffeehäuser Frankfurts wäre völlig untypisch für ihn. Seine Angriffe richteten sich immer nur ganz gezielt gegen sie.
»Nein, ich denke, das ist echt. Das kommt nicht von unserem Lieblingsfeind. Da stecken irgendwelche aufgebrachten Frauen dahinter, die sich grämen, weil ihre Ehemänner ihre gesamte Zeit im Kaffeehaus verbringen und dort ihr ganzes Geld hintragen.«
»Oder neidisch sind, weil sie selbst nicht herkommen dürfen!«
Johannas Hausnachbar, der Schuhmacher Denzel, zwinkerte ihr vieldeutig zu, während er sich geschmeidig neben den Koch auf die Bank gleiten ließ.
»Sie meinen, die Frauen sind in Wirklichkeit einfach nur zornig darüber, dass sie zu Hause bleiben müssen, während ihre Männer sich draußen amüsieren?«, fragte Johanna zurück.
»Natürlich! Das ist doch klar, oder? Sie glauben gar nicht, was meine Kundinnen mir so alles erzählen! Die meisten von ihnen leiden darunter, dass sie außerhalb ihrer vier Wände keinen Ort haben, wo sie sich treffen können. Wo sie auch mal andere Frauen kennenlernen. Oder auch ein bisschen gucken können, was die Herren der Schöpfung so alles treiben.«
Der Schuhmacher lachte leise und legte umständlich seinen Rock ab. In seiner Schusterei wurden die feinsten Pantöffelchen der ganzen Stadt hergestellt. Sogar aus Hanau, Höchst und Homburg kamen die Kundinnen eigens zu ihm angereist. Die Pantöffelchen und das viele Zwinkern, ja, eigentlich alles an ihm stand in einem eigenartigen Kontrast zu seiner starken Religiosität. Die Denzels gehörten zur Herrenhuter Brüdergemeinde. Viele Jahre hatten sie auf dem Gut des Grafen Zinzendorf, dem Gründer der Herrenhuter, mit Gleichgesinnten streng nach der Bibel gelebt. Erst nachdem Gregor Denzels Vater gestorben war und er den Betrieb hatte übernehmen müssen, war die Familie zurück in ihre Heimatstadt gekommen. Innerhalb von kürzester Zeit hatte Denzel sich einen exzellenten Ruf erworben. Er kam kaum nach, die zahlreichen Bestellungen abzuarbeiten, die all die vornehmen Frankfurter Bürgerinnen bei ihm aufgaben. Doch es waren nicht allein die Pantöffelchen, warum sie so gern zu Denzel gingen, mutmaßte Johanna. Obwohl sein rechtes Augenlid seit einem lange zurückliegenden Kutschenunfall stark nach unten hing, war der Schuster ein attraktiver Mann. Und er verstand die Frauen, das hatte sie selbst auch schon mitbekommen. Er wusste ihnen Aufmerksamkeit zu schenken, sich in sie einzufühlen, ihnen Komplimente zu machen. Über ihre zarten Füßchen. Oder den eleganten Schwung ihrer Waden … Über ihn und die Damenwelt wurde so einiges gemunkelt, das war Johanna nicht verborgen geblieben. Sie glaubte aber nicht, dass wirklich etwas an den Gerüchten dran war, dazu war Denzel dann doch zu strenggläubig.
»Glauben Sie mir: Ich kenne mich aus mit Frauen!«, warf sich der Schuhmacher in die Brust. »Ich weiß, wie es in ihren Seelen aussieht, liebe Johanna. Was den Damen gefällt und was ihnen nicht
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