Die Kaffeemeisterin
zu holen und ihre Tochter wieder zum Strahlen zu bringen?
»Und sehen Sie zu, dass unsere Polizei die verdammte Wasserleiche endlich findet!«, rief sie dem Mann mit der hohen Stirn zu. »Er wird sich doch nicht in Luft aufgelöst haben!«
Das war alles, was ihr im Moment einfiel, dann war sie endlich zur Tür hinaus. Draußen empfing sie ein wunderschöner Spätsommertag. Nur die braunen Blätter, die vereinzelt auf der Gasse herumlagen, und der milchige Hauch in der Luft, der letzte Rest von Frühnebel, ließen erahnen, dass bald Michaelis war. Aber noch war es warm, und schon nach kurzer Zeit spürte Johanna, wie ihr der Schweiß den Rücken hinunterrann. Mit kräftigen Schritten durchmaß sie die Fahrgasse, in jeder Hand einen leeren Eimer, in dem sie die Kaffeebohnen transportieren wollte. Es hatte keinen Sinn zu trödeln, sie musste jetzt endlich diesen Besuch bei Jehuda hinter sich bringen. Die Coffeemühle war ihres Grundnahrungsmittels beraubt, und sie als Betreiberin des Lokals hatte für Nachschub zu sorgen. So einfach war das. Noch immer hatte sie sich nicht zurechtgelegt, was sie dem Krämer sagen könnte, um ihr langes Fernbleiben zu entschuldigen. Denn die Wahrheit war ja unaussprechbar. Wie sollte sie ihm schließlich erklären, dass sie nur aus Angst, Gabriel bei ihm zu treffen, die Judengasse und damit auch seinen Laden bisher gemieden hatte? Dass sie die Gefühle, die ein Wiedersehen mit dem Geiger in ihr auslösen könnten, mehr fürchtete als alles andere auf der Welt? Dass sie seit Wochen einen riesigen Bogen um alle Orte machte, an denen sie Gefahr lief, ihm zu begegnen? Auch jetzt hing ihr das Herz vor lauter Aufregung beinah in den Kniekehlen.
H inter der Synagoge stauten sich einmal mehr Menschen, Tiere und Karren. Ein ohrenbetäubender Lärm herrschte, als Johanna sich durch das Gewimmel auf dem Vorplatz des Gotteshauses drängte. Erst als sie sich einen Platz auf den Eingangsstufen des Gebäudes erkämpft hatte, sah sie, woher der Krach rührte: Ein paar Spielleute trieben ihren Schabernack mit den Gemeindedienern, die offensichtlich die Aufgabe hatten, sie am Ausüben ihrer Tätigkeit zu hindern. Die Musiker in ihren zerlumpten bunten Gewändern und lustigen Kopfbedeckungen wehrten sich gegen das Verbot, indem sie die wildesten Geräusche auf ihren Instrumenten erzeugten. Ein unglaubliches Quäken, Tröten, Scheppern, Rasseln ging von der kleinen Gruppe aus, die feixend vor den unglücklich dreinschauenden Kalmeschores zurückwich und ihnen dann doch wieder ausbüxte, um sich erneut vor dem Haupteingang der Synagoge zu versammeln. Die Umstehenden schienen genauso viel Spaß an der Sache zu haben wie die Musiker selbst. Auch Johanna musste lachen, obwohl ihr die Ohren von dem Getöse schmerzten. Sämtliche Basare von Konstantinopel waren doch eigentlich nichts im Vergleich mit der Geschäftigkeit der Frankfurter Judengasse.
E ndlich hatte sie sich ihren Weg durch die Schaulustigen gebahnt und stand vor dem Haus Zum Goldenen Kamel. Vorsichtig stieß sie die Tür auf. Ein Schwall modriger Luft schlug ihr entgegen. Das Glöckchen über der Tür bimmelte leise. Johanna trat vor. Eine dicke Staubschicht lag auf dem Verkaufstisch, beleuch tet von einem einzelnen Sonnenstrahl, der ein wenig Licht in den düsteren Raum brachte. Auch auf dem Boden tummelten sich die Staubflocken, wie winzige Mäuse hüpften sie in dem von Johanna verursachten Luftzug umher. Die Stoffballen in den Regalen hinter dem Tresen waren zwar immer noch zahlreich, doch auch sie schienen ihren Glanz verloren zu haben.
Was war geschehen? Ein Gefühl des Unbehagens beschlich Johanna. Das alles sah Jehuda überhaupt nicht ähnlich. Er war doch sonst immer so pingelig darauf bedacht gewesen, seine Waren schön zu präsentieren. Nicht dass er krank war – oder gar Schlimmeres?
Plötzlich hörte sie ein Schlurfen, das aus den Tiefen des Ladens immer näher kam. Der Greis, der auf seinen Stock gestützt langsam auf sie zuschlappte, blickte erst auf, als er genau vor ihr stand.
»Die Bergerin! Na so was! Sieht man Sie auch mal wieder!«
Rührung schwang in Jehudas Stimme mit, die genauso frisch und jugendlich klang wie eh und je. Wäre sie nicht gewesen, Johanna hätte den Krämer, der aussah wie ein Schatten seiner selbst, kaum wiedererkannt. Sie versuchte sich ihren Schrecken nicht anmerken zu lassen
»Jehuda! Es tut mir ja so leid, dass ich nicht schon längst zu Ihnen gekommen bin! Ich habe ein so schlechtes Gewissen
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