Die Kaffeemeisterin
nach. Jehuda – wie lange war sie nicht mehr bei ihm gewesen? Über ein Jahr! Wahrscheinlich wusste er nicht einmal, dass sie wieder im Lande war. Nein, Jehuda wusste alles, korrigierte sie sich, er hatte wahrscheinlich als einer der Ersten von der Wiedereröffnung der Coffeemühle erfahren. Und sicher war er zutiefst beleidigt, dass sie ihn noch immer nicht aufgesucht hatte. Mit Recht, schließlich waren sie einander sehr zugetan gewesen. Und jetzt würde sie wieder angekrochen kommen, weil sie seine Dienste benötigte. Elisabeth hatte gar nicht so falschgelegen mit ihrer Behauptung, sie, Johanna, würde immer nur sich selbst sehen …
Das zuckende Spiel der Kerzenflamme warf seltsame Schatten auf Wand und Boden. Langsam tastete sich Johanna die Stufen hinauf. Gut, sie würde morgen zu Jehuda gehen, beschloss sie. Etwas anderes blieb ihr wohl kaum übrig, wenn dieser unzuverlässige Floriano sie schon wieder im Stich ließ. Sie würde in den sauren Apfel beißen, wie Elisabeth sich ausgedrückt hatte. Oder in die Höhle des Löwen gehen, als welche man das Haus Zum Goldenen Kamel in der Judengasse durchaus auch betrachten konnte. Nur dass der Löwe keine sandfarbene Mähne, sondern schwarze Locken hatte. Und kein furchterregendes, aufgesperrtes Maul und gefährliche Tatzen, sondern wunderbar geschwungene Lippen und lange, schmale Musikerhände. Aber Angst hatte sie trotzdem vor ihm.
36. KAPITEL
M utter, du musst aufstehen! Bitte, Mutter, wach auf!«
Johanna hatte das Gefühl, von einer Reise in die Mitte der Welt zurückgeholt zu werden, so tief und fest hatte sie geschlafen. Mühsam öffnete sie die Augen. Sie zwinkerte, als das helle Licht, das vom Fenster aufs Bett fiel, sie blendete. Schützend legte sie den Arm über ihre Stirn. Am liebsten hätte sie sich wieder umgedreht und sich die Decke über den Kopf gezogen. Doch offenbar war sie gefragt, im Hier und Jetzt, und zwar von Margarethe, wie ihr allmählich dämmerte.
»Mutter, da ist jemand, der dich sprechen will!«
Die Stimme ihrer Tochter war immer drängender geworden. Johanna setzte sich auf. Sie fror in ihrem dünnen Nachthemd.
»Was ist denn, Gretel?«, murmelte sie verschlafen und gähnte herzhaft.
»Bitte, Mutter, nenn mich nicht Gretel!«, sagte das junge Mädchen vorwurfsvoll. »Du weißt doch, wie ich diesen Namen hasse. Ich verstehe ja auch nicht, wieso du dich von Elisabeth immer noch ›Hanne‹ nennen lässt.«
»Schon gut, Gr … Margarethe, aber nur um mir das zu sagen, bist du doch sicher nicht in aller Herrgottsfrühe in meine Kammer gekommen. Was ist denn so Dringendes los?«
Margarethe reichte ihr den Becher Kaffee, den sie aus der Gaststube mit nach oben gebracht hatte. Dankbar ergriff Johanna das dampfende Getränk und nahm einen großen Schluck.
»Unten ist ein Herr, der dich sprechen möchte«, erklärte das Mädchen. »Er hat seinen Namen nicht genannt, aber ich kenne ihn. Ich meine, ich habe ihn schon mal gesehen, und zwar bei Gericht.«
»Bei Gericht?«
Jetzt war Johanna endgültig wach. Sie drückte der plötzlich leicht verängstigt aussehenden Margarethe den Kaffeebecher in die Hand und sprang aus dem Bett, um sich in Windeseile anzuziehen.
»Was hat er gesagt? Wie sieht er aus? Was will er von mir? Ist er allein?«, überschüttete sie ihre Tochter mit Fragen, während sie sich ihr Mieder zuknöpfte und in die langen Strümpfe fuhr.
»Er hat seinen Namen nicht genannt, aber ich glaube, er ist ein Freund von Justus. Du erinnerst dich doch sicher noch an diesen jungen Mann mit der hohen Stirn, diesen Beisitzer bei deinem Prozess, der so laut gelacht hat, oder? Das ist er. Vielleicht … vielleicht will er …«
Margarethe brach ab. Sie wirkte seltsam fahrig auf Johanna. Obwohl die Kaffeetasse nur noch zu einem Drittel gefüllt war, hatte sie es fertiggebracht, eine kleine braune Lache auf dem Holzboden zu hinterlassen. Zwei rote Flecken hatten sich auf ihrem Hals gebildet.
Johanna musterte sie scharf. Ob sie wirklich in Justus verliebt war, wie Elisabeth behauptet hatte? Ja, warum eigentlich nicht?, erkannte sie plötzlich. Für ein so junges Mädchen wie Margarethe sah Justus von Zimmer wahrscheinlich recht gut aus, außerdem war er lustig, nicht dumm und sehr reich. Und dass er mehr Tiefe besaß, als seine oberflächliche Art zunächst vermuten ließ, hatte spätestens sein erstaunliches Übersetzertalent gezeigt und der große Ernst, mit dem er bei der Sache war. Selbst seine draufgängerische Art, diese
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