Die Kaffeemeisterin
Zwischenunterkünfte bei christlichen Familien zu verlassen und in die baufällige Gasse zurückzukehren. Kein Wunder, dass hier ständig weiteres Unheil drohte, Häuser in sich zusammenstürzten, Menschen von herabfallenden Ziegeln erschlagen wurden und neue Brandherde entstanden! Roch es nicht schon wieder nach Feuer? Johanna schnupperte. Stieg da hinten über dem Dach nicht eine Brandsäule auf? Und das, während sie zwischen diesen ganzen Leibern feststeckte!
Ein Peitschenknall ließ sie zusammenzucken. Sie meinte noch den Lufthauch der Gerte auf ihrer Wange zu spüren, als direkt vor ihr ein Pferd scheute und mit den Vorderbeinen in die Höhe stieg. Sein Reiter, ein junger Mann, den man an seiner Kleidung als Nichtjuden erkennen konnte, hatte es wohl eilig gehabt und durch die Menge preschen wollen. Jetzt schien ihm sein Pferd einen Strich durch die Rechnung zu machen. Johanna sah, wie er sich abmühte, nicht den Halt auf dem nunmehr fast senkrecht aufgerichteten Pferderücken zu verlieren und aus dem Sattel zu rutschen.
»He, holla!«, brüllte er auf sein Pferd ein und zog erneut die Peitsche, während er gleichzeitig an den Zügeln riss und dem Tier die Sporen in den Unterleib rammte.
Doch der Rappe tobte nur noch mehr und fing an, auf seinen Hinterbeinen im Kreis zu tänzeln. Rasch hatte sich eine kleine Freifläche um Pferd und Reiter gebildet; alle hatten sie Angst, von den Hufen des Tieres getroffen zu werden. Immer dichter pressten sich diejenigen aus der vorderen Front gegen die hinter ihnen Stehenden. Johanna hörte ein Kind schreien, das unter den Ochsen neben ihr gedrängt wurde.
»Nein!«, wimmerte der kleine Junge.
»Was ist passiert, Herschel?«
Der Vater des Jungen versuchte gerade mit Johannas Hilfe den Kleinen unter dem Ochsen hervorzuzerren, der als Einziger keine Panik zu verspüren schien und ungerührt wiederkäuend dastand, als ein Geräusch wie von zersplitternden Knochen an ihre Ohren drang, dicht gefolgt von einem markerschütternden Schrei.
Zwischen den Schultern ihrer Vordermänner hindurch konnte Johanna sehen, wie eine alte Frau in einem langen schwarzen Mantel zu Boden stürzte. Der Rappe, dessen Hufe offenbar ihre Rippen zertrümmert hatten, bäumte sich ein letztes Mal auf und preschte dann, wild angetrieben von seinem auf ihn einpeitschenden Reiter, durch die sich blitzschnell bildende Furt in der Menschenmenge davon.
»Einen Arzt, so holt doch einen Arzt!«, schrie eine heisere Männerstimme.
Ein paar junge Kerle wollten die Verfolgung des Reiters aufnehmen, mussten aber schon nach wenigen Schritten einsehen, dass sie gegen das davongaloppierende Tier und die sich sofort wieder zusammendrängende Menge nichts ausrichten konnten.
Johanna war wie gelähmt. Wegen des schrecklichen Unfalls, der unmittelbar vor ihren Augen passiert war, hatte sie sich kaum gegen das Drängen der Umstehenden gewehrt und sich willenlos herumschubsen lassen. Sie befand sich nun Bauch an Flanke mit dem Ochsen, als wollte sie das Tier von hinten umarmen. Gott sei Dank stand sie mit dem Rücken zu der verletzten Frau und musste sich nicht dem Anblick von Blut und Knochensplittern aussetzen! Der Schrei, den die Alte ausgestoßen hatte, als die Hufe auf sie niederkrachten, hallte noch immer in ihren Ohren wider, wie ein Echo. Jetzt wimmerte die Frau nicht einmal mehr.
Endlich hatte der Vater seinen sich sträubenden Sohn unter dem Ochsen hervorgezogen und ihn sich auf die Schultern gesetzt. Energisch und ohne Rücksicht zu nehmen machte er Anstalten, sich seitlich an einer Dienstmagd mit einem Eierkorb auf dem Kopf vorbeizuzwängen. Das Mädchen schien keine andere Sorgen als ihre hochaufgetürmten Eier zu kennen, sodass es tatsächlich einen winzigen Schritt zur Seite tat und den Vater passieren ließ.
Johanna ergriff die Gelegenheit: Rasch ließ sie den Ochsen los und klammerte sich von hinten an den Mann, der sich mit Gewalt durch die schreiende Menschenmenge kämpfte. Einige der zur Seite gedrängten Leute riefen ihnen grob klingende Flüche hinterher. Immer tiefer drangen sie auf diese Weise in die Gasse hinein. Johanna versuchte nicht an die alte Frau zu denken, auf deren Brustkorb die Hufe des Pferdes gelandet waren. Sie würde ihren Verletzungen bestimmt erliegen – wenn sie nicht schon gestorben war.
Kurz hinter der Synagoge passierten sie eine Baustelle, vor der ein Fuhrwerk mit Steinen parkte. Und dann lichtete sich endlich die Menge. Sie ließ von dem Mann ab, der in dem Getümmel
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