Die Kaffeemeisterin
ragte ein spitz zulaufender Giebel vor. Was für ein Unterschied zu den engen Häusern in der Judengasse, bemerkte der Geiger mit einem Anflug von Wehmut. Er musste an Venedig denken, wo er in einem alten palazzo unweit der Piazza San Marco gewohnt hatte, zur Untermiete bei einer reichen Witwe. Zwei große Zimmer hatte er zu seiner persönlichen Verfügung gehabt. Er war niemals so produktiv gewesen wie in jenen Monaten. Allein der Ausblick aus seinem Fenster auf den Kanal unter dem alten Palast, auf die Fassaden der anderen Häuser, hatte genügt, ihn Melodien aufs Papier zaubern zu lassen. Aber auch das Haus der Bergerin hatte schon einmal bessere Tage gesehen, fiel ihm auf, während er die üppigen Schnitzereien studierte. An einigen Stellen gehörte das ochsenblutfarbene Fachwerk sicher ausgebessert. Doch was machte das schon, das Haus war und blieb etwas ganz Besonderes. Wie seine Besitzerin, dachte er – als er plötzlich einen so heftigen Stoß gegen seinen Körper erfuhr, dass er fast gestürzt wäre.
»Können Sie nicht aufpassen? Ich wäre beinahe umge…«
Gabriel unterbrach sich. Ein breites Lächeln glitt über seine Züge, als er erkannte, wer da so stürmisch in ihn hineingerannt war. Er verstärkte seinen Griff um die Oberarme der Frau, die selbst mit dem Gleichgewicht kämpfte und ihn offenbar genauso wenig gesehen hatte wie er sie.
Voller Wut auf Hannes, der seinen Dienst noch immer nicht angetreten hatte, war Johanna aus der Gaststube gestürzt, um ihn zur Rede zur stellen. Wahrscheinlich schlief er zu Hause mal wieder seinen Rausch aus, hatte Sybilla gemutmaßt. Wenn Hannes seine Trunksucht nicht bald in den Griff bekam, musste sie sich eben einen neuen Koch suchen, hatte Johanna daraufhin beschlossen und ein warmes Umschlagtuch gegen den kalten Wind draußen vom Haken genommen, um dem Elsässer eben genau das an den Kopf zu knallen. Was sie fast am meisten ärgerte, war, dass Hannes ihr mit seiner Unzuverlässigkeit die gute Laune verdorben hatte. Dabei hatte der Tag so gut angefangen, war doch der Zauberkünstler genau das, was sie brauchte, um der Eröffnung des Damensalons ein besonderes Glanzlicht aufzusetzen.
Gereizt versuchte Johanna ihren Helfer abzuschütteln. Auch das noch! Wer musste sich ihr da ausgerechnet jetzt in den Weg stellen, wo sie es so eilig hatte? Doch die beiden Männerhände schienen sie nicht loslassen zu wollen. Ein weiterer Moment verging und noch einer; längst war die Gelegenheit verpasst, den Zusammenstoß als dummes Missgeschick abzutun und sich gegenseitig höflich um Verzeihung zu bitten.
Ohne dass sie den Blick zu heben brauchte, erkannte Johanna mit einem Mal, wer der Mann sein musste, der sie so fest im Griff hielt. Diese Stimme, dieser Geruch, diese ganze Gestalt mit ihrer beunruhigend sinnlichen Ausstrahlung hatten sie im Haus Zum goldenen Kamel , in Jehudas Krämerladen, schon einmal überwältigt, ja zutiefst verstört, wenn sie ehrlich war: Gabriel Stern, der junge jüdische Geiger, besaß doch tatsächlich die Chuzpe, sie vor der Tür ihres eigenen Lokals so hartnäckig in seinen Armen, so dicht an seinen sehnigen Körper gepresst zu halten, dass seine Nasenspitze nur wenige Fingerbreit von der ihren entfernt war, dass sie seinen Mund mit den blitzenden weißen Zähnen beinah küssen konnte. Seit sie ihm begegnet war, hatte er sich immer wieder in ihre Gedanken geschlichen, sosehr sie sich auch dagegen gewehrt hatte. Sie konnte kaum glauben, dass nun genau das passierte, was sie sich insgeheim erhofft hatte: Der Zufall führte sie erneut zusammen.
Johanna schloss die Augen, um sich einen winzigen Moment ihren widerstreitenden Empfindungen hinzugeben. Denn Zufall hin oder her: Es spielte überhaupt keine Rolle, ob sie das Wiedersehen mit Gabriel Stern herbeigewünscht hatte oder nicht. Sie durfte zwar mit Juden Geschäfte machen, aber alles darüber hinaus war strengstens verboten. Warum sollte sie sich also über ihr erneutes Zusammentreffen freuen?
Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie genau in Sybillas Gesicht, die sie von ihrer Leiter aus erstaunt musterte und darüber völlig vergessen zu haben schien, das Schild weiterzuputzen.
»Was fällt Ihnen ein, lassen Sie mich sofort los!«, herrschte sie den Geiger laut genug an, dass auch ihre Magd sie hören konnte.
Über Gabriel Sterns Schulter hinweg konnte sie einen Blick auf den blonden Hünen mit der Hakennase erhaschen, der just in dem Moment die Langschirne hochkam und geradewegs auf
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