Die kalte Koenigin
Vision sehen? Merod? Zeigst du mir, was ich zu sehen bekomme, oder wandert mein geistiges Auge ziellos umher, aufgrund des zerrissenen Schleiers?
»Eine schöne Stimme«, meinte die zerlumpte Gestalt, als die Sängerin ihr schönes Lied beendet hatte. »Aber sie singt von so traurigen Dingen.«
»Ihre Stimme mag vielleicht hübsch sein«, erwiderte Thomas Cutter, »aber sie ist eine Plage. Kummer braucht keinen Sänger, heißt es. Ich vermisse die alten Dichter, die Trouvères, die hier einst wanderten. Als ich ein Knabe war, ist in den Liedern von Liebe die Rede gewesen. Nun geht es um Kummer und bitterkalten Schnee.« Thomas Cutter zog den Kopf von der Pike und stieß ihm die Dreizack-Hand mitten in den Hals. Er blickte in alle Richtungen, um sich zu versichern, dass er nicht beobachtet wurde. »Ich will mehr als Geld für diesen Kopf, Fräulein«, murmelte er. »Es geht um meinen eigenen Kopf, falls jemand mich verrät.«
»Was Ihr wünscht, werde ich bezahlen«, sagte sie mit einer Stimme, so weich wie ein Kaninchenfell.
Er grinste. »Lasst mich Euer Gesicht sehen, meine Hübsche.«
Als die Fremde den Stoff aus ihrem Gesicht zog, konnte ich sie noch immer nicht erkennen. Ich sah ihnen zu, als schwebte ich genau über den beiden Personen in der Luft.
Cutter keuchte auf. »He«, sagte er, indem sich seine Lippen kräuselten, als hätte er in einen sauren Apfel gebissen. »Genug, genug. Du hättest mich warnen können. Ich habe dich in den Grabhügeltiefen gesehen, meine Liebe, wo du für Ringe
und wertlosen Plunder getanzt hast. Ich hätte nicht gedacht, dass du die Gießerei bei Tageslicht verlassen würdest. Ich treibe nicht viel Handel mit Aschlingen.«
Aschling. Das Wort war mir noch unvertraut, wenngleich ich wusste, dass Mädchen, die in Schlössern die Feuerstellen versorgten, »Aschemädchen« genannt wurden. Dies erweckte meine Neugierde noch mehr, denn an dieser zerlumpten Frau erschien mir irgendetwas vertraut. Auch ihre Stimme kam mir bekannt vor, selbst wenn ich die Erinnerung nicht recht einordnen konnte. War ich ihr bereits begegnet?
»Ich werde mit vielen Namen gerufen«, entgegnete sie. »Aschling ist nur einer davon.«
»Ihr Schmelzofenmädchen tragt alle das Mal. Suchst du hier nach Essensabfällen, Aschling? Bist du eine Todeshändlerin?«
»Nein.«
»Gut«, meinte er. »Ich würde dir nicht um alles in der Welt einen Kopf verkaufen, wenn du es wärest.« Er sprach dies so aus, dass es ganz genau so klang, als würde er Geschäfte mit jedem beliebigen Todeshändler abschließen, der des Weges kam. Dann sah er sich um, um sich zu vergewissern, dass weder ein Wachtposten in der Nähe war, noch Spitzel, die Bericht über einen solchen Schwarzmarkthandel erstatten konnten.
Er blickte nach oben, zu den Dächern hinauf, und keuchte auf, als hätte er einen Schatten gesehen, der den Himmel überquerte.
Einen ganz kurzen Augenblick lang war ich mir sicher, dass er rätselhafterweise in der Lage wäre, mich zu sehen, doch wie hätte dies der Fall sein können? Ich lag auf dem Boden eines verschlossenen Brunnens, tief unten in der Erde. Meine Gedanken
reisten durch Visionen, doch mein Leib existierte für seinen Blick nicht.
Siehst du mich, Thomas Cutter? Ich war mir sicher, dass er dazu nicht imstande war. Aber gab es da ein Geisterbild von mir, dort in der Luft, direkt über den beiden Menschen? Er blickte geradewegs durch mich hindurch.
»Die Moms mögen das Ende des Tages. Kühl. Im Sommer sind sie rar, aber mit dem Frost... Moms lieben die Kälte, sagen die Steinbrucharbeiter. Und sie sollten es wissen, unten in den Grabhügeldurchgängen, im Morgengrauen.« Er schauderte. »Diese Art Arbeit könnte ich selbst niemals tun. Nein, nein. Nein.«
»Der Tag vergeht zu schnell«, sagte der Aschling. Auch die junge Frau blickte nach oben und starrte direkt in mich hinein, sah mich aber nicht. Wonach suchen sie am Himmel?, fragte ich mich. Wer sind diese »Morns«?
Sie wandte den Blick wieder ihm zu. »Aber es ist noch früh, und ich denke, Euer Haken würde einem Mom einen Kratzer verpassen, den er nicht so bald vergessen könnte.«
Er entfernte den kleinen Dreizack aus dem leblosen Hals. »Es ist ein Dreizack, Aschling. Kein Haken. Ich kann Haken nicht ausstehen. Manchmal sehe ich ihn an und habe dann fast das Gefühl, als seien diese Dinger nun meine Finger. Siehst du? Sind diese Zinken nicht wie Finger?« Er fuchtelte mit dem Dreizack vor ihrem Gesicht herum.
»War es nun eine Plage
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