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Die kalte Koenigin

Die kalte Koenigin

Titel: Die kalte Koenigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Clegg
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diesem Land existierten.
    Die Gefangenschaft hatte meine Fähigkeit des zweiten Gesichtes geschärft. Es war stärker geworden, je mehr Jahre vergangen waren, obwohl es manchmal zu einem Schimmer zusammenschmolz, statt zu einer voll entfalteten Vision zu erblühen. Aber diese Vision von einer merkwürdigen jungen Frau, gehüllt in Lumpen und Asche, und ihrer Suche nach dem nekromantischen Schwestemorden, war für mich überwältigend und besaß eher die Qualität einer körperlichen Wirklichkeit als die einer einfachen Vision.
    Ich erblickte die große schwarze Aschewolke, die aus den Schmelzöfen aufstieg. Sie überragten die Mauern der Stadt, als stünde das halbe Reich in Flammen. Eine schwarze Rauchwolke verfinsterte die sieben Türme und stieg in die Luft auf, wo, so wurde geglaubt, die Asche der Toten nach dem Himmel strebte. Asche fiel wie Schneeflocken auf die Straßen. Einige der Staubkörner aus grauer Asche wurden auf das verlassene
Land zugetrieben, und einige von ihnen erreichten vielleicht die Akkaditenklippen, die sich weit im Norden des Reiches erhoben.
    Weit unter dem Rauch und innerhalb der Außenmauern, wo das gemeine Volk in den Gassen des Irrgartens, die zur Zitadelle gehörten, seinen Gewerben nachging, schritt eine Kreatur, in Lumpen gekleidet, zielstrebig durch diese Orte der Huren, Bettler und Händler von Krankheit und Tod.
    »Der Kopf dieses Mörders! Diese Abscheulichkeit gegenüber dem Neuen Reich!«, brüllte ein einhändiger Schwertkämpfer, als riefe er es dem Kopf des toten Mannes zu, der auf der Pike steckte. Er zeigte mit dem Ende seines Unterarmes, der mit einem kleinen Dreizack in Handgröße versehen war, auf diesen. »Der Mann da verriet seinen eigenen Sohn! Er verriet unseren Herrn und unsere Herrin! Er verriet die Weißen Roben! Er besudelte die Scheibe! Er verriet das Volk unseres Landes und beschmutzte das Gedenken an diejenigen, welche bei den sechs Plagen starben! Viele Nächte verbrachte er in den Käfigen, und ihr saht ihn und hörtet seine Blasphemie, wenn ihr über die St. Taranis-Brücke gingt, nicht wahr? Bevor ich ihm den Kopf abschlug, schlug ich ihm die Hände ab! Und die Füße! Und noch immer schrie er seine Ketzereien heraus! Um ein solches Schicksal zu erleiden, gehörten seine Verbrechen mit Sicherheit zu den schlimmsten, den finstersten, den teuflischsten Verbrechen gegen unsere Stadt!«
    Der Schwertkämpfer kauerte sich nieder, um die Münzen und Ringe aufzulesen, die ihm zugeworfen wurden, und ebenso, um den gesalzenen Dorsch und das Brot einzupacken. Er murmelte wohl vor allem sich selbst zu: »Sie zeigen sich nach Frosteinbruch nicht mehr so zahlreich.«

    Warum?, fragte ich den Priester des Blutes, der in mir wohnte, warum sehe ich dies jetzt? Warum höre ich die Stimmen? Lass mich andere sehen, die, welche mir wichtig sind, lass mich sehen, was mit den Waldfrauen geschehen ist, mit Alienora, und zeige mir das Grab meines Kindes, damit ich trauern kann. Zeige mir nicht diesen schmutzigen Ort mit seinen Bösewichtern und Halunken.
    Doch ich empfing nichts als Schweigen, und die Vision von dem Schwertkämpfer und der Gasse setzte sich fort, während ich mit geschlossenen Augen in einem uralten Brunnen lag.
    Vor meinem geistigen Auge spielte sich Folgendes ab:
    Als sich die enge, gekrümmte Straße leerte, setzte sich der Schwertkämpfer auf ein umgedrehtes Fass, als würde er auf mehr hoffen. Eine Bettlerin trug am Ende der Straße ihre traurigen Lieder vor, genau an der Stelle, wo diese in die nächste Gasse mündete.
    Bei Einbruch der Dämmerung näherte sich die einsame Kreatur in Lumpen und bot dem Schwertkämpfer mehrere gute Münzen – den gerechten Tribut für das Andenken an die Toten, so sagte er ernst zu ihr, indem er mit seiner Dreizack-Hand auf sie deutete. Durch die kalte Luft hallte die Stimme der Bettlerin am Straßenende, die von irgendeiner verlorenen Liebe sang sowie von den Zeiten vor den Akkaditen, den Zeiten, bevor sich das Meer in Eis verwandelte, sowie von den Zeiten vor den Weißen Roben selbst.
    Die zerlumpte Kreatur warf einen kurzen Blick zurück zu der Sängerin am Zugang zu der kleinen Seitenstraße. »Ihr seid Thomas Cutter«, sagte sie.
    Der Schwertkämpfer nickte. »Scharfrichter, Schweineschlächter und Händlersoldat. Und...«, er blickte den Kopf
des hingerichteten Mannes an, »Verkäufer noch anderer Gegenstände.«
    Eine junge Frau in Lumpen, dachte ich, als er sie ansah. Vielleicht eine Hure. Warum muss ich diese

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