Die kalte Koenigin
offensichtliche Bedeutung.
»Ihr sucht das Mondkind?«
Der Aschling nickte.
»Dort ist es – seht Ihr es? Inmitten der Äste hält es Ausschau nach Euch«, meinte der Fährmann, indem er auf den fremden Knaben deutete. »Er bringt Euch ohne Zweifel zum Wolfsbau. Sagt mir, ist Euer Anliegen hier von dunkler oder von heller Natur?«
»Ich kann es Euch noch nicht erzählen, denn es würde Euch Schaden bringen, mein Freund«, entgegnete sie. Sie wandte sich um, um den schmalen Pfad entlangzugehen, der im Wald verschwand, zahlreiche Meilen von der Stelle entfernt, wo dieser einst wild gewachsen war.
Dann drehte sie sich erneut um und rief den Namen Mordac. Da kam der Knabe gerannt und gesellte sich zu ihr.
Der frühe Winter hatte den Waldboden ausgehöhlt, und Frost verdichtete die mit Laub bedeckte Erde. Die Grotte war bereits vor langer Zeit ausgetrocknet, und ihr Becken hatte sich nun mit Opfergaben von Pilgern und Wanderern gefüllt. Die
Bäume des Waldes waren, wie in einer Grimasse, vor diesem windgepeitschten Ödland zurückgewichen, ihre Wurzeln freigelegt. Die Knochen der Toten waren mit ihren verdrehten Wurzeln verflochten. Die purpurrote Blume – das Gift der Schlange, das mir durch den Schleier das zweite Gesicht brachte – und ihre nesselbesetzte Rebe wanden sich inmitten der und durch die Knochenhaufen hindurch und erschufen so etwas wie einen Pfad zum Eingang der Höhle.
Der Aschling hörte die Schreie, die vom Himmel erklangen (und obgleich ich versuchte, nach oben zu blicken, um zu sehen, was einen solchen Lärm verursachte, gelang es mir nicht – stattdessen sah ich die Erde, die Bäume und den Aschling auf seinem Weg) und näherte sich dem in der Höhle gelegenen Zuhause der Klausnerinnen. Diese Frauen hatte ich als Magdalenen gekannt, aber auch sie hatten sich in den Jahren der Übel verändert. Sehr bald würde ich erfahren, dass sie einen neuen Namen für sich selbst gefunden hatten: Chymers. Allerdings würde ich nicht erfahren, wo sie sich hatten umtaufen lassen. Sie dienten nicht länger den Heiligen der Christenheit, denn die menschlichen Gebeine in ihrem wild wachsenden Garten deuteten auf eine wesentlich dunklere Anbetung hin.
Während ich den Aschling beobachtete, begriff ich allmählich, dass er aufgrund von irgendeiner Form der Totenbeschwörung zu diesen Frauen gekommen sein musste, denn warum sonst sollte er das Haupt eines Mörders in diesen Gebeingarten bringen?
Wolfsbau hatte der Fährmann diesen Ort genannt.
Der Knabe begleitete die verhüllte junge Frau, seine linke Hand in ihrer rechten. Mit seiner rechten Hand umklammerte
er den Sack, der den Kopf enthielt. Sein seltsam langes, silbergraues Haar fiel ihm bis auf die Schultern herunter und bedeckte sie. Von Weitem hätte ihn ein Beobachter fälschlich für einen jungen Wolf halten können, der auf seinen Hinterbeinen stand.
»Ich hätte mich verirrt, hättest du mich nicht geführt«, sagte der Aschling, wobei seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern war. »So vieles hat sich in dem westlichen Wald verändert. Einst kannte ich diese Bäume so gut wie meine rechte Hand, aber nun wirkt es... nun wirkt es eher wie ein fremdes Land.«
Der Knabe nickte. Er sagte einige Worte in der wölfischen Sprache, die einem Knurren und Jaulen gleichkam.
»Ich habe keine Angst vor ihnen, Mordac«, erklärte sie. »Sie sind gierig. All jene, die gierig sind, sind aber Feiglinge.« Aus den Falten ihrer Lumpen holte sie mehrere Münzen hervor, ebenso wie eine Handvoll funkelnder Edelsteine und einige Ringe, die sie an ihre Finger steckte. »Sie lassen sich vielleicht sogar einfacher kaufen als die Huren der Grabhügeltiefe.«
Der Knabe grunzte und schnaufte, sprach aber kein Wort. Er deutete an dem Laub vor der Tür vorbei zu den Steinkammern der Klausnerinnen. Gebeine und zerbrochene Schädel lagen dort, verflochten mit den Reben, aufgestapelt wie Feuerholz. Auf den Reben wuchsen kleine purpurrote Blumen, deren Blütenblätter durch den Frost geschlossen waren. Jedes dreifach geteilte Blatt krümmte sich leicht, und winzige, beinahe unsichtbare Nesseln wuchsen an seinem Stiel.
»Die Sang-Fleur ist für mich nicht tödlich«, sagte der Aschling. »Sie trinkt mein Blut auch nicht. Sieh her.« Die Frau kauerte sich hin, ließ ihre Finger sanft über die Knospen einer Blume gleiten und folgte den Reben, die sich durch den Knochenstapel
wanden. Der Knabe griff nach ihrem Arm, um sie zurückzuziehen, sie aber schüttelte ihn ab.
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