Die kalte Koenigin
herabzusteigen begann, ein Seil um ihre Hände geschlungen. Sie schien völlig durchdrungen von einem würzigen Duft, Zitrus aus den südlichen Gegenden, und auch der Gestank des Sumpfgrases. Außerdem wehte der Geruch von Katzenurin zu mir her, als schliefe sie in einem Katzennest am Rand eines Stalles.
Der andere Geruch überfiel mich ebenfalls wie eine Faust, die auf meiner Nase landete – ein außerordentlich durchdringender Gestank war das.
Ich konnte das Blut durch ihre Poren riechen. Es war frisch und lebendig.
Instinktiv benetzte ich mir die Lippen mit der Zunge und spürte, wie mein Durst zunahm.
Ein Schimmer jenes violetten Lichts eines neuen Tages bohrte sich wie eine Lanze nach unten. Wenngleich das Licht
mich nicht erreichte, konnte ich spüren, wie es in der Ferne brannte.
Das Licht war unser Feind, nur in der Dunkelheit konnten wir gut sehen.
Warum kommst du her, Aschling?, fragte ich mich. Werden wir nun niedergemetzelt? Ins Sonnenlicht hinaufgebracht, damit unsere Haut verglimmt?
Einmal hatte ich gesehen, wie ein Vampyr auf diese Art getötet worden war.
Ich hatte gesehen, was Sterbliche tun – denn damals war ich einer von ihnen gewesen.
Ich hatte einem Angehörigen meines Stammes das gleiche furchtbare Schicksal beschert.
Hier.
Unter der Erde.
Ich hatte ihn heraufgeholt, so dass er dem unerbittlichen Gleißen der Sonne ausgesetzt war.
Mein Gefängnis – ein antiker Brunnen, der mit einer solchen Kunstfertigkeit hergestellt worden war, dass er nicht wie ein Brunnen auf mich wirkte, sondern wie ein rundes Schiff, in dem man jemanden gefangen halten konnte. Mein Gefängnis war von den Römern erbaut worden, Hunderte von Jahren vor meiner Existenz. Es war von Tempeln umgeben gewesen, die sie für ihre Götter erbaut hatten, sowie von noch älteren Hinkelsteinen, die es seit jeher im Großen Wald gegeben hatte.
Aber all dies lag nun in Trümmern. Die Rankengewächse und Farne auf dem Waldboden hatten die umgestürzten Tempelsäulen überwuchert und viele der Brunnen verschlossen.
Auf irgendeine Weise spürte ich noch die Gegenwart der Alten in diesem Brunnen, der zu meinem Grab geworden war.
Und nun wagte sich diese Sterbliche in die steinernen Gewölbe vor, um die beiden geflügelten Dämonen zu finden.
Ich hatte nicht erwartet, dass der Verschluss des Brunnens aus Silber bestand, ebenso wenig, wie ich angenommen hatte, dass sein Boden aus einem harten Felsvorsprung bestand. Nachdem wir darin gefangen worden waren, konnten wir uns durch keine noch so großen Bemühungen befreien, gleichgültig, ob wir gruben wie die Wölfe. In jenem elften Jahr unserer Gefangenschaft war meine Kraft auch dermaßen erschöpft, dass ich meine Lippen kaum noch an Ewens Hals heben konnte, um meine wöchentliche Ration an Nahrung zu mir zu nehmen.
Doch ich hörte Merods Stimme. Er tröstete mich, indem er durch sein Blut zu dem meinen sprach. Zunächst warnte er mich vor Artephius, dem ungesehenen Alchimisten, der mächtig genug gewesen war, um Merod Al-Kamr, den Vater meines Volkes, in seiner Grabstätte einzuschließen. »Er ist derjenige, der die Vernichtung der Menschheit ausführt«, flüsterte Merod meinem Blut zu. »Er denkt nicht so darüber, doch hat er sowohl der Schlange als auch der dunklen Mutter die Geheimnisse gestohlen. Er ist weder ein Vampyr noch ein Sterblicher, aber er wird vielleicht niemals sterben und kann weder durch eine sterbliche noch durch eine unsterbliche Kraft vernichtet werden. Ich fragte mich in meinen Jahrhunderten unter den Hallen von Alkemara, ob es sich bei ihm um die Vernichtung der Welt in Gestalt eines Mannes handele. Er bedeutet für alle eine Gefahr und baut Spielzeug, das zum Abschlachten
in der Lage ist, sowie Tempel, die zur Versklavung gedacht sind.«
Zuweilen schien Merods Stimme ein Symptom meines eigenen Wahnsinns zu sein. Ich hätte nicht sagen können, ob seine Stimme wahrhaftig in mir erklang oder ob ich sie mir einfach nur einbildete, um Geist und Verständnis zu finden.
Ewen war während dieser Jahre beinahe kindlich geworden – wenn er von mir trank, wirkte er wie ein Säugling, der auf die Mutterbrust angewiesen ist. Ich machte mir Sorgen um ihn, aber selbst die Visionen, die ich zu erleben begann, konnte ich nicht mit ihm teilen – er war gar nicht imstande, durch den Saft der Blume zu sehen. In jenem elften Jahr fragte ich mich, warum ich je ausgewählt worden war, der Erlöser dieses Stammes zu sein, und warum ich dem sterbenden Ewen
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