Die kalte Legende
Dringlichkeit in der Stimme, als hinge unglaublich viel davon ab, sie davon zu überzeugen, dass Tagesnamen und Nachtnamen nie identisch sein konnten. »Ich habe Ihnen gesagt, es würde irgendwann zu Ende sein. Sie haben gesagt, Sie wollten dann in der Toskana Polyesterschafe züchten. Ich freue mich, dass Sie offensichtlich etwas Interessanteres mit Ihrem Leben angefangen haben.«
Das nervöse Lächeln arbeitete sich hinauf zu den ängstlichen Augen der Frau. »Polyester ist ein synthetischer Stoff«, sagte sie leise. Sie zog sanft an der Hand des Jungen. »Tut mir Leid, wir müssen weiter. Es war nett, mit Ihnen zu plaudern, Lincoln Dittmann. Leben Sie wohl.«
»Leben Sie wohl«, sagte Lincoln, und obwohl ihm nicht danach zumute war, rang er sich ein Lächeln ab.
1997: MARTIN ODUM IST MASSLOS FASZINIERT
Die Linienmaschine schob sich durch die dichten Wolken und gab einen Blick frei, der so freudlos war wie ein Himmel ohne Sonne. Dunkle, pockennarbige Felder, mit Bewässerungsgräben gerippt, erstreckten sich unter dem Bauch des Flugzeugs. Von seinem Fensterplatz aus sah Martin Odum, wie Prag in dem ovalen Rahmen hochkippte, als säße die Stadt auf dem hohen Ende einer Wippe. Vor seinem geistigen Auge gaben die Gebäude der Schwerkraft nach und rutschten in die Moldau, die sich breit und Schlammfarben mitten durch die Stadt schlängelte. Als die Tragfläche der Maschine sich senkte, glitt Prag wieder in die Horizontale. Die Hügel rings um die Stadt kamen am Horizont in Sicht, und die Plattenbauten aus der kommunistischen Ära ergossen sich über die Gipfel in die eintönige Landschaft hinein. Gleich darauf setzte die Maschine auf. »Willkommen in Prag«, verkündete eine Stimme vom Band über die Lautsprecher. »Wir hoffen, Sie hatten einen angenehmen Flug. Der Kapitän und seine Crew danken Ihnen, dass Sie mit Czech Airlines geflogen sind.«
»Ich habe zu danken«, hörte Martin sich erwidern. Die dralle Engländerin neben ihm hatte ihn wohl auch gehört, denn sie bedachte ihn mit einem Blick, der Passagieren vorbehalten war, die auf Durchsagen vom Band antworten. Martin sah sich genötigt, seine Bemerkung zu erklären. »Eine Fluggesellschaft, die mich heil an mein Ziel bringt, verdient meine uneingeschränkte Dankbarkeit«, sagte er zu ihr.
»Wenn Sie Flugangst haben«, entgegnete sie, »sollten Sie vielleicht lieber mit dem Zug fahren.«
»Ich hab auch Angst vor Zügen«, sagte Martin düster. Er musste an die Italienerin Paura denke, die Lincoln Dittmann in Foz do Iguaçú kennen gelernt hatte. Sie hatte Angst vor ihrem eigenen Schatten gehabt. Er fragte sich, was wohl aus ihr geworden war. Er war noch immer nicht hundertprozentig sicher, dass die Frau, die Lincoln auf dem Gianicolo-Hügel in Rom angesprochen hatte, und die Prostituierte in Brasilien ein und dieselbe Person waren. Er meinte zwar, eine gewisse äußerliche Ähnlichkeit festgestellt zu haben, aber von ihrer ganzen Art her lagen Welten zwischen den beiden Frauen.
Als Martin sich eine dünne Beedie zwischen die Lippen gesteckt hatte und durch das Gedränge im Terminal den Schildern mit einem Bussymbol folgte, versperrte ihm plötzlich ein schmächtiger junger Mann mit einem ironischen Grinsen auf den fleischigen Lippen den Weg. Er trug eine beigefarbene Reithose, die an den Knöcheln geknöpft war, und eine grüne Tiroler Jacke mit angelaufenen Messingknöpfen. Einen Augenblick lang dachte Martin, die Prager Polizei hätte ihn identifiziert, doch der junge Mann klärte ihn rasch auf.
»Mister, egal, ob Sie geschäftlich oder zum Vergnügen nach Prag gekommen sind, in jedem Fall brauchen Sie jemanden, der Ihnen zur Seite steht, und zwar für ein wesentlich geringeres Honorar, als Sie für Hotels und öffentliche Verkehrsmittel und Mahlzeiten ausgeben würden, wenn Sie meine Dienste nicht in Anspruch nehmen.« Der junge Mann lüftete seine Sherlock-Holmes-Mütze und hielt sie sich vor den Solarplexus. »Radek, mein Name, für dreißig läppische Kronen die Stunde bin ich stets zu Diensten, das ist nicht mehr als ein lausiger US-Dollar.«
Martin ging es weniger darum, Geld zu sparen, als vielmehr Zeit. Sein Instinkt sagte ihm, dass er Prag wieder verlassen haben musste, ehe Crystal Quest, deren Agenten ihm bestimmt dicht auf den Fersen waren, den hiesigen Geheimdienst von seiner Anwesenheit informiert hatte, und auch, bevor die Tschetschenen, die Taletbek Rabbani ermordet hatten, ihn einholen würden. Er zog einen Zehndollarschein aus der
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