Die kalte Legende
herausstellte, gab es eine Akte über ihn im Zentralregister, seit er sich dem antisowjetischen Dschihad in Afghanistan angeschlossen hatte. Osama, der Sohn des aus dem Jemen stammenden Baulöwen Muhammad Awad bin Laden, der in Saudi-Arabien ein Vermögen gemacht hatte, galt in seiner Familie als das schwarze Schaf der dreiundfünfzig Geschwister, teils weil er die saudische Königsfamilie und ihre enge Bindung an die USA verachtete, teils weil er ein fanatischer islamischer Fundamentalist geworden war.
Okay, wir haben seinen Namen und ein Foto von ihm, räumte Quest nur leicht besänftigt ein. Verdammt ärgerlich, dass wir ihn nicht auch in Fleisch und Blut haben.
Wie wär’s, schlug einer ihrer Leute vor, wenn wir auf die Sudanesen Druck ausüben, damit sie ihn an uns ausliefern oder zumindest aus dem Sudan ausweisen?
Ich habe bin Laden ganz oben auf unsere Wunschliste gesetzt, verkündete Quest. Wir sähen ihn am liebsten tot. Irgendwie habe ich das Gefühl, wir sollten diesen Osama in die Hände kriegen, bevor er den radioaktiven Abfall in die Hände kriegt und sich eine schmutzige Bombe bastelt.
Amen, sagte Lincoln.
Sechs Wochen später verbrachte Lincoln einen vierzehntägigen Erholungsurlaub in Rom. Er nahm sich ein Taxi zur Hadriansvilla bei Tivoli, wo er den ganzen Nachmittag im leichtem Frühlingsregen über das weitläufige Grundstück humpelte und versuchte, Mythos und Realität zu unterscheiden. Wo hörte der leibhaftige Publius Aelius Hadrianus auf, wo begann die Legende, die die Geschichte aus ihm gemacht hatte? War er der Kaiser, der den jüdischen Aufstand im Jahre 132 blutig niederschlug und die Überlebenden in Ketten durch Rom treiben ließ? Oder der Kunstmäzen, der außerhalb von Rom den prächtigen Sommersitz mit der faszinierenden kreisrunden Bibliothek errichten ließ, wo er ganze Nachmittage die Manuskripte studierte, die er gesammelt hatte? Oder, was wahrscheinlich war, enthielten beide Inkarnationen etwas von dem wahren Hadrian?
Bildete die Wahrheit nicht das Rückgrat einer jeden Legende?
Am frühen Abend ließ er sich von dem Taxi auf der anderen Seite des Tiber am Gianicolo-Hügel absetzen. Er warf noch einmal einen Blick auf die Adresse, die auf dem Zettel in seiner Brieftasche stand, und stieg den Hügel hinauf, ganz gemächlich, um sein Bein nicht zu überanstrengen, bis er zu dem eleganten viergeschossigen Apartmenthaus nicht weit von dem Springbrunnen kam, wo viele Römer verweilten, um die negativen Ionen der Kaskaden einzuatmen. Er setzte sich auf die Steinbalustrade ein paar Schritte vom Brunnen entfernt, im Rücken das Panorama von Rom, und atmete selbst ein Paar der Ionen ein. Schaden konnte es ja wohl nicht, dachte er.
Inzwischen konnte er ohne Stock gehen, obwohl sein Bein rasch ermüdete. Die Ärzte in der CIA-Klinik in Maryland hatten keinen Hehl daraus gemacht, dass die Schmerzen nie ganz verschwinden würden. Er müsste lernen, damit zu leben, sagten sie; das tat schließlich jeder mit chronischen Schmerzen.
Irgendwo auf dem Hügel schlugen die Glocken einer Kirche die volle Stunde an, und Lincoln sah auf seine Uhr. Entweder sie oder die Glocken gingen um vier Minuten falsch, aber was spielte das für eine Rolle? Zeit war doch im Grunde nur etwas, das man totschlug. Auf der anderen Straßenseite nahm ein Pförtner in einem langen, blauen Mantel mit goldenen Tressen seine Mütze ab, um eine sehr elegant gekleidete Frau zu grüßen, die aus dem Gebäude kam. In einer behandschuhten Hand hielt sie die Leine eines kleinen Hundes, in der anderen die Hand eines kleinen Jungen, der eine kurze Hose und einen bis zum Hals zugeknöpften knielangen Mantel trug. Der Hund trippelte vor ihnen her, als die Frau und der Junge die Straße überquerten und dann an dem Brunnen vorbeikamen. Lincoln rutschte von der Steinbalustrade, als sie auf seiner Höhe waren.
»Hallo«, sagte er.
Die Frau blieb stehen. »Kennen wir uns?«
»Erinnern Sie sich nicht an mich?«
Die Frau blickte verwirrt. »Tut mir Leid, nein. Sollte ich?«
Lincoln bemerkte ein kleines silbernes Kruzifix, das an einer zarten Silberkette um ihren Hals hing. »Mein Name ist Dittmann. Lincoln Dittmann. Wir haben uns in Brasilien kennen gelernt, in Foz do Iguaçú. Ihr Tagesname war Lucia.«
» Mama, que dice? «
Ein nervöses Lächeln umzuckte die Mundwinkel der Frau. »Mein Tagesname ist zufällig derselbe wie mein Nachtname. Fiamma. Fiamma Segre.«
Lincoln sprach plötzlich mit einer gewissen
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