Die kalte Legende
sind verschiedene Biographien, verschiedene Einstellungen, verschiedene Sichtweisen der Welt, verschiedene Arten, Freude zu bereiten und zu empfinden. Es hat was damit zu tun, dass man so zerbrochen ist wie Humpty Dumpty, den keine Macht der Welt mehr zusammensetzen kann.«
»Hör mal, Martin –«
»Na toll! Jetzt wissen die, dass ich es bin.«
»Könnte doch sein, dass ich einen falschen Namen sage, um sie auf eine falsche Fährte zu locken.«
»Da ist was dran.«
»Ich habe dich angelogen bei unserem letzten Telefonat. Als ich gesagt habe, wenn ich mich in den nächsten Flieger setzen würde und zu dir käme, gäbe es keine Verpflichtungen. Wenn du willst, dass ich komme, gibt es doch welche. Verpflichtungen, meine ich.«
Martin wusste nicht, was er sagen sollte. Er unterdrückte ein Mm-hm und schwieg.
»Du weißt nicht, was du sagen sollst«, spekulierte Stella.
»Verpflichtungen«, sagte Martin. »Irgendwie ist das ein Wort, das nicht zu dir passt.«
»Ich meine auch nichts Weltbewegendes. Weißt du noch, bei unserer Einreise in Israel, als ich zu dem Polizisten gesagt habe, du wärst mein Liebhaber?«
Martin musste schmunzeln. »Und ich habe gesagt, du hättest einen sibirischen Nachtfalter unter der rechten Brust eintätowiert.«
»Hab ich auch«, verkündete Stella.
Er verstand nicht. »Was hast du?«
»Einen sibirischen Nachtfalter unter der rechten Brust. Hab ich mir in einem jamaikanischen Tattoo-Laden auf dem Empire Boulevard machen lassen. Das meine ich mit Verpflichtung. Wenn wir uns das nächste Mal sehen, werde ich dir das Tattoo zeigen müssen, um zu beweisen, dass es da ist – schließlich neigst du nicht gerade dazu, mir so etwas Wichtiges aufs Wort zu glauben. Dann sehen wir, ob eins zum anderen führt.«
Martin dachte an die Hure, die Dante in Beirut kennen gelernt hatte. »Ich habe mal von einer Frau gehört, die tatsächlich unter der Brust einen Nachtfalter eintätowiert hatte. Sie hieß Djamillha. Hast du wirklich ein Tattoo?«
Er konnte das Lachen in ihrer Stimme hören. »Mm-hm.«
»Du stiehlst meine Mm-hms«, sagte Martin.
»Ich hab vor, noch mehr zu stehlen«, konterte sie.
Er wechselte das Thema. »Ich hatte heute Angst.«
»Wovor?«
»Ich bin in einer Situation, in der ich noch nie war. Das macht mir Angst.«
»Okay, jetzt hör mal. Du gewöhnst dich besser dran, in Situationen zu kommen, in denen du noch nie warst. Ich werd dir dabei die Hand halten. Einverstanden?«
»Na gut.«
»Wenn das Begeisterung sein soll, möchte ich dich nicht erleben, wenn du widerwillig bist.«
»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht.«
»Kennst du die Geschichte von dem russischen Bauern, der gefragt wurde, ob er Geige spielen kann? Ich weiß es nicht, erwiderte er. Ich hab’s noch nie versucht.« Sie lachte leise über ihren eigenen Witz. »Du musst es versuchen, Martin, wenn du wissen willst, ob du es kannst oder nicht.«
»Mein Verstand sagt mir, dass du Recht hast. Aber mein Gefühl nicht.«
Sie dachte darüber nach. »Warum rufst du an?«
»Ich wollte deine Stimme hören. Mich vergewissern, dass du noch du bist.«
»Na, du hast sie gehört, und ich habe deine gehört. Und was machen wir jetzt, Martin?«
»Ich weiß es nicht.« Sie mussten beide lachen. »Ich meine, ich muss schließlich immer noch deinen Schwager finden.«
»Lass es gut sein. Vergiss Samat. Komm nach Hause, Martin.«
»Wenn ich es gut sein ließe, dann wäre der Mensch, der nach Hause käme, nicht ich. Außerdem warten so viele Fragen auf eine Antwort.«
»Wenn die Antworten nicht zu finden sind, musst du lernen, mit den Fragen zu leben.«
»Ich muss Schluss machen. Stella?«
»Okay, okay, leg auf. Ich lass mir das Gespräch dann noch mal durch den Kopf gehen und überlege, ob mir der eine oder andere tiefere Sinn entgangen ist.«
» Don’t Worry, Be Happy. «
»Was?«
»Daran musste ich heute denken – das haben die in Paraguay immer in der Jukebox gespielt, als ein Bekannter von mir dort war.«
»Wer waren die? Eine Frau?«
»Ein paar Frauen. Prostituierte, die in einer Kneipe anschaffen gingen und bei einem Polen Lotterielose kauften.«
»Du deprimierst mich, Martin. Ich weiß so vieles nicht über dich.«
»Ich deprimiere mich auch. Aus dem gleichen Grund.«
Das Tagesgericht in dem kleinen jugoslawischen Restaurant bestand aus scharf gewürzten Fleischbällchen, die zusammen mit zerkochtem und schwer zu identifizierendem Gemüse in Suppenschüsseln serviert wurden. Martin tauschte
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