Die kalte Legende
und übergaben sie dem orthodoxen Metropoliten, der die Kirche der Verklärung Christi bauen ließ, um die Gebeine dort unterzubringen. Trotz wiederholter Bittbriefe unsererseits blieben die Gebeine im Besitz der Orthodoxen, bis ein deutscher Armeeoffizier im Jahre 1944 die Reliquien stahl, als er durch Susowka kam.«
In der Hoffnung, die Geschichte verkürzen zu können, sagte Martin: »Dann fand Samat Ugor-Shilow heraus, dass die orthodoxe Kirche eine Sammlung von kostbaren Thorarollen und Kommentaren besaß, und bot die Gebeine des heiligen Gedymin, die er in einer orthodoxen Kirche in Argentinien aufgespürt hatte, im Austausch gegen die jüdischen Dokumente an.«
Der Bischof hüpfte nervös auf und ab, als Samats Name fiel. »Aber nein, so war es nicht! Das ist bloß die erfundene Geschichte, die dieser teuflische Samat Ugor-Shilow und der Metropolit die Welt glauben machen wollen. Die Wahrheit sieht ganz anders aus.«
»Spitzen Sie jetzt gut die Ohren«, forderte der Offizier Martin auf.
Der Bischof bemerkte den schmutzigen Saum seiner Robe und klopfte sich den Staub ab. »Das Fernsehen berichtete, dass Samat Ugor-Shilow, der als russischer Menschenfreund bezeichnet wird, die Gebeine des heiligen Gedymin gegen die Thorarollen und Kommentare eingetauscht hat, die seit dem Großen Vaterländischen Krieg in der orthodoxen Kirche aufbewahrt wurden. Das Fernsehen berichtete weiter, er habe dafür lediglich ein winziges Kreuz haben wollen, das aus dem Holz des so genannten Wahren Kreuzes gefertigt wurde, welches im Besitz der orthodoxen Kirche ist. Das Fernsehen hat sogar gezeigt, wie der Metropolit das winzige Kreuz, so groß wie der kleine Finger eines Kindes, an Samat übergibt. Samat hat sich bedankt und gesagt, er würde das Kreuz der orthodoxen Kirche in dem Dorf bei Moskau schenken, in dem seine Mutter lebt.«
Martin blickte von den Notizen auf und seine Augen leuchteten vor Aufregung. »Hat er den Namen des Dorfes genannt?«
Der Bischof schüttelte den schweren Kopf und seine Hängebacken wackelten heftig. »Nein. Ist das wichtig?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Der wahre Grund, warum Samat Ugor-Shilow die Gebeine des Heiligen nicht ihren ursprünglichen katholischen Hütern, sondern der orthodoxen Kirche gegeben hat, ist Opium.«
Martin blickte entnervt wieder auf. »Opium?«
»Opium«, wiederholte der Offizier und tippte mit dem Zeigefinger auf Martins Block. »Schreiben Sie das auf, bitte.«
»Opium«, sagte der Bischof, »ist der Schlüssel zum Verständnis der Ereignisse. Schlafmohn wird im so genannten Goldenen Dreieck angebaut – Burma, Thailand, Laos. Vietnamesische Drogenhändler transportieren das Rohopium zum russischen Marinestützpunkt Cam Ranh in Vietnam, von wo es zum russischen Hafen Nachodka im Japanischen Meer gebracht wird. Das russische Drogenkartell, das von einem Tsvetan Ugor-Shilow, genannt der Oligarch, geleitet wurde, bis er vor einigen Jahren untertauchen musste, verarbeitet das Opium in Nachodka und schmuggelt es durch Russland nach Europa und Amerika. Seit Ende der achtziger Jahre dient Susowka als Umschlagplatz für den Weitertransport des Opiums nach Nordeuropa und Skandinavien. Für die Anlieferung wurden hier im Flachland an der Memel extra provisorische Start- und Landebahnen angelegt, sodass kleine Flugzeuge nachts ihre illegale Ware in diese Ecke Litauens bringen können. In den Westen geschafft wird das Opium dann von Kurieren, die sich als orthodoxe Priester verkleiden, weil sie so die Grenzübergänge leichter passieren können. Als der Metropolit dem einen Riegel vorschieben wollte, hat Samat ihn praktisch gekauft, indem er ihm die Gebeine gegeben hat.« Der Bischof zwinkerte schelmisch. »Vorausgesetzt, es waren wirklich die Gebeine des Heiligen.«
»Und die Thorarollen?«
»Der Metropolit wollte sich nicht vorwerfen lassen, er würde mit heiligen Texten Geschäfte machen, deshalb hat er sie an Samat übergeben, der sie an ein israelisches Museum verkauft hat und den Erlös, abzüglich einer saftigen Provision, dann an die orthodoxe Kirche gespendet hat.«
»Und woher haben Sie die Informationen?«
Der Bischof schielte nach oben zu dem Storchennest auf dem Glockenturm. »Ein sehr großer Vogel hat es mir geflüstert.«
Martin klappte den Notizblock zu und steckte ihn in die Tasche.
»Es kommt mir so vor, als wäre jedes Rätsel Teil eines anderen, noch größeren Rätsels.«
»Das ist wie bei einer Zwiebel«, sagte der Bischof tröstend.
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