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Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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sei Journalist aus Kanada. Die Menge teilte sich, als etliche Honoratioren – die im Unterschied zu den Bauern zweireihige Jacketts und bis zum Hals zugeknöpfte Hemden trugen – die Bauern aufforderten, den Journalisten durchzulassen.
    Martin beeilte sich, trotz seines lahmen Beines, das ihm seit seinem Besuch am Aralsee ziemlich zu schaffen machte, durch das dichte Gedränge streng riechender Bauern zu dem Gebäude mit den drei Zwiebelkuppeln zu gelangen, auf denen jeweils ein orthodoxes Kreuz aufragte. Zwei junge Priester in Sandalen und schwarzen Roben winkten ihm, die Treppe hinauf und in die Kirche zu kommen. Kaum war er eingetreten, schlug hinter ihm die schwere, metallbeschlagene Holztür zu, die sogleich mit einem dicken Querholz verriegelt wurde. In der Kirche roch es nach Weihrauch und Bienenwachskerzen und nach dem Staub und der Feuchtigkeit von Jahrhunderten, und Martin brauchte eine Weile, um sich an die diesige Dunkelheit zu gewöhnen, in der die Ikonen an den schwitzenden Wänden silbern und golden schimmerten. Ein großer bärtiger Mann in schwarzem Gewand mit einem markanten Gesicht und einer schwarzen Mitra auf dem Kopf kam näher. Bei jedem Schritt stieß er die silberne Spitze eines dicken Stabes auf den Boden.
    Der Priester baute sich vor dem Besucher auf und sagte mit donnernder Stimme: »Ich bin der Metropolit Alfonsas. Ich komme aus der Distrikthauptstadt Alytus und bin hier, um die Gebeine des heiligen Gedymin zu empfangen und die Kirche der Verklärung Christi vor den Papisten zu verteidigen, die die heiligen Reliquien stehlen wollen.«
    Bevor er etwas sagen konnte, wurde Martin von grellem Licht geblendet. Blinzelnd konnte er die Gestalt eines Kameramannes ausmachen, der durch die Kirche näher kam. Der Scheinwerfer an seiner geschulterten Kamera richtete sich auf einen Reliquienschrein, der neben der Kanzel in die Wand eingelassen war. Einer der jungen Priester entfernte ein Vorhängeschloss und öffnete dann eine dicke Glastür. Im Licht der Kameralampe kam ein Samtkissen zum Vorschein, auf dem, wie es aussah, ein ausgebleichter Becken und Oberschenkelknochen ruhten. Martin fiel ein Stück verwittertes Holz auf, etwa so dick und so lang wie ein Unterarm, das in einer mit goldenem Stoff ausgeschlagenen Nische in den Schrein eingelassen war.
    »Und was ist das da für ein Stück Holz?«, fragte er den Metropoliten.
    Alfonsas’ Augen wurden stumpf vor Zorn. »Das ist kein Holz«, rief er. »Das ist ein Stück vom Wahren Kreuz.« Von Emotionen überwältigt wandte der Metropolit sich ab, warf sich auf den prächtigen Steinboden, unter dem die Leichname von Metropoliten und Mönchen begraben lagen, und murmelte russische Verse. Auf Anweisung eines Produzenten schwenkte der Kameramann auf Alfonsas, während eine schick gekleidete Frau in ein Mikrophon sprach.
    Die Journalistin verstummte abrupt, als von draußen Lärm durch die dicken Kirchenmauern drang. Einer der Priester kletterte eine Leiter hoch, spähte durch einen Schlitz in einem Erkertürmchen und rief: »Heiliger Vater, die Schlacht hat begonnen.« Der Metropolit sprang auf und ließ die Glastür des Schreins schließen und verriegeln. Dann hielt er seinen Stab an der silbernen Spitze fest und legte sich den schweren, schmuckbesetzten Griff auf eine Schulter, um sich vor dem Reliquienschrein des heiligen Gedymin aufzubauen. »Nur über meine Leiche«, rief er und starrte Martin mit seinen dunklen Knopfaugen an. »Ich möchte, dass Sie Zeuge sind«, sagte er zu ihm, »wie die Papisten zu Unrecht Anspruch auf die Reliquien unseres Heiligen erheben.«
    Der Kameramann machte den Scheinwerfer aus, und das Fernsehteam rannte zu der schmalen Tür hinten in der Kirche. Der Metropolit schrie auf, als er sah, dass sie das Querholz entfernten – zu spät. Die Tür flog auf, und eine Meute brüllender Bauern kam in die Kirche gestürmt. Der Metropolit verteidigte den Schrein, indem er wild mit seinem schweren Stab um sich schlug, doch als ihm jemand die Zacken einer Mistgabel in den Oberschenkel stach, konnten die Bauern ihn entwaffnen. Martin wich an eine Wand zurück und hob die Hände über den Kopf, doch ein paar völlig durchgedrehte Bauern mit wilden Bärten und wilden Augen stürzten sich auf ihn und traktierten seinen Brustkorb mit Fausthieben, bis er nach vorn kippte und zu Boden sank. In dem heillosen Chaos, das in der Kirche tobte, sah er, wie einer der Bauern einen schweren Kerzenhalter hob und die Glastür des Reliquienschreins

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