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Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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Foto von Martin aus der Akte ziehen müssen, was sie nicht in seinem Beisein tun wollte. Statt sich wie sonst vor ihren Schreibtisch zu setzen, ließ er sich elegant in einem Sessel neben dem niedrigen Tisch am Fenster nieder, streckte die Beine aus und schlug die Füße übereinander. Dann forderte er sie mit einem Kopfnicken auf, in dem Sessel ihm gegenüber Platz zu nehmen. Als sie vom Schreibtisch aufstand und zu ihm ging, merkte sie, wie er sie mit Blicken auszog, und als sie sich gesetzt hatte und die Beine kreuzte, sah sie, wie er ihren Oberschenkel in Augenschein nahm. Sie stellte den kleinen Kassettenrecorder hin und schob das Mikro näher zu Martin hinüber. Er schaute ihr direkt in die Augen, und sie merkte, dass sie unwillkürlich mit dem Ringfinger spielte, an dem sie vor ihrer Scheidung den Goldring getragen hatte.
    »Was für ein Parfüm tragen Sie?«, fragte er.
    Als sie nicht antwortete, versuchte er es anders. »Ist Treffler Ihr Ehename?«
    »Nein. Ich arbeite unter meinem Mädchennamen.«
    »Sie tragen keinen Ehering, aber ich habe gewusst, dass Sie verheiratet sind.«
    Sie wandte die Augen ab. »Wodurch habe ich mich verraten?«
    »Wollen Sie das wirklich wissen?«, fragte er mit deutlich suggestivem Unterton.
    Warum versuchte Martin Odum, sie anzumachen?, fragte sie sich. Was hatte sich seit der Sitzung vorigen Monat verändert? Sie beugte sich vor, wobei ihr durchaus klar war, dass er in dieser neuen Inkarnation einen Blick in ihren Ausschnitt riskieren würde, und drückte eine Taste am Kassettenrecorder. »Sagen Sie mal was, ich muss sehen, ob Ihre Stimme richtig ankommt.«
    »Gern.« Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf und genoss es sichtlich, dass er sie so verlegen gemacht hatte. » Frohlockende Sieger schlagen die Schlacht « , rezitierte er, » denn der Funke der Freiheit ist mächtig erwacht. «
    »Ist das auch von Walt … von Walter Whitman?«
    Er lachte leise. »Das ist ein Lied, das die Jungs gern am Lagerfeuer gesungen haben, als sie darauf warteten, den Rappahannock zu überqueren.«
    Plötzlich fiel bei ihr der Groschen. »Sie sind nicht Martin Odum!«
    »Und Sie sind nicht so schwer von Begriff, wie Martin sagt.«
    »Sie sind der, der behauptet, er wäre bei der Schlacht von Fredericksburg dabei gewesen«, hauchte sie. »Sie sind Lincoln Dittmann.«
    Er schmunzelte nur.
    »Aber wieso? Was machen Sie hier?«
    »Martin hat Ihnen erzählt, dass ich in Fredericksburg war, aber Sie haben ihm nicht geglaubt. Sie haben gedacht, er hätte das erfunden.«
    Lincoln beugte sich vor. Der Schalk war aus seinem Blick verschwunden. »Sie haben seine Gefühle verletzt, Dr. Treffler. Leute in Ihrer Branche sollen Gefühle heilen, nicht verletzen. Martin hat mich hergeschickt, um die Sache klarzustellen.«
    Dr. Treffler war klar, dass sie sich hier auf Neuland vorwagte.
    »Okay, überzeugen Sie mich, dass Lincoln Dittmann bei der Schlacht von Fredericksburg dabei war. Worüber haben die Jungs sich denn so unterhalten, um sich die Wartezeit bis zur Überquerung des Flusses zu verkürzen?«
    Lincoln blickte zum Fenster hinaus, die Augen weit aufgerissen, starr, konzentriert. »Sie haben über Hausmittel gegen Durchfall geredet, den viele für den Erzfeind gehalten haben, gefährlicher als die Südstaatler. Sie haben Rezepte für Schwarzgebrannten ausgetauscht. Sie haben darüber debattiert, ob die Sklaven befreit werden sollten, wenn sie den Fluss überquert, Richmond eingenommen und den Krieg gewonnen hätten. Es waren so viele dagegen, dass die wenigen, die dafür waren, ihre Meinung lieber für sich behielten. Sie haben darüber gemeckert, dass der Priemtabak einen Dollar achtzig kostete. Sie haben gegen die Yankees gehetzt, die in den Westen gegangen waren, um sich der Einberufung zu entziehen, während sie am Rappahannock hockten und in dem gottverdammten Krieg kämpften.«
    »Welchen Rang hatten Sie?«
    Lincoln richtete den Blick wieder auf Dr. Treffler. »Ich war nicht in der Armee.«
    »Was haben Sie denn dann in Fredericksburg gemacht?«
    »Ich hab für Alan Pinkertons Privatdetektei in Chicago gearbeitet. Ist Ihnen Alan Pinkerton ein Begriff?« Als Dr. Treffler nickte, sagte er: »Dachte ich mir. Alan wurde von seinem Freund Colonel McClellan beauftragt, etwas gegen die Banditen zu unternehmen, die ständig Eisenbahnzüge überfielen. Als der Colonel vom guten Abe Lincoln zum Befehlshaber der Potomac-Armee ernannt wurde, brachte er seinen Freund Alan Pinkerton mit, der zu der

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