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Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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Ziegelsteinen beladenen Holzkarren vorbei. Oben auf dem Bock saß ein alter Bauer. Er nahm die Zügel in eine Hand und tippte mit zwei Fingern der anderen grüßend an den Schirm seiner Mütze, als Martin ihm auf Russisch einen guten Tag wünschte. Der alte Mann schnalzte mit der Zunge, und die Pferde blieben brav stehen.
    Martin deutete mit einer Handbewegung auf die Scharen von Männern, die in Richtung Susowka unterwegs waren, und hob dann die Hände, als wollte er fragen: Wohin wollen die alle?
    Der Alte beugte sich zur Seite und spuckte Eukalyptussaft auf die Straße. Dann musterte er den Fremden aus Augen, in denen eine Spur Mongolei lag, und erwiderte: »Der heilige Gedymin ist nach Susowka zurückgekommen.«
    »Gedymin ist vor sechshundert Jahren gestorben«, bemerkte Martin eher zu sich selbst.
    Der Bauer sprach langsam und deutlich, als würde er ein Kind belehren.
    »Gedymins Gebeine, die die deutschen Invasoren aus unserer Kirche gestohlen haben, sind wie durch ein Wunder wieder aufgetaucht.«
    Aus irgendeiner fernen Ecke seines Gehirns klaubte Martin russische Worte zusammen und bildete einen Satz daraus. »Und wie sind die Gebeine des Heiligen nach Susowka zurückgebracht worden?«
    Ein verschlagenes Grinsen erschien in dem verwitterten Gesicht des alten Mannes. »Mit einem Privathubschrauber natürlich, wie es sich für einen Heiligen gehört.«
    »Und wann war das?«
    Der Bauer deutete mit dem Kinn zum Himmel und schloss die Augen, während er an den Fingern abzählte. »Gestern ist die Kuh der Witwe Potesta in der Memel ertrunken. Vorgestern hat Eidintas bis auf den Daumen alle Finger der rechten Hand verloren, weil er sich den Strick von seinem Bullen darum gewickelt hatte und das Tier plötzlich die Wäsche auf der Leine angegriffen hat. Vor drei Tagen ist die Frau des betrunkenen Schäfers zu Fuß zur Apotheke in Susowka gelaufen, weil ihr Mann eine gebrochene Nase hatte. Sie wollte aber nicht sagen, wessen Faust die Nase gebrochen hatte.« Der Bauer grinste. »Vor drei Tagen ist der Hubschrauber gekommen.«
    »Und warum sind die Männer alle bewaffnet?«
    »Um sich dem Metropoliten Alfonsas anzuschließen und Gedymin vor den Katholiken zu verteidigen.«
    Der alte Mann lachte über Martins Ignoranz, während er mit der Zunge schnalzte und den Zügeln schlug, um die Pferde wieder anzutreiben. Martin stieg in den Lada, startete den Motor und fuhr los. Als er auf die linke Spur wechselte, um den Pferdewagen zu überholen, hupte er zweimal, woraufhin der alte Mann, der noch immer lachte, wieder mit zwei Fingern an den Schirm seiner Mütze tippte, doch diesmal wirkte die Geste eher spöttisch als höflich.
    Susowka kam hinter der nächsten Biegung in Sicht. Es war eine schnell wachsende Kleinstadt mit einer Traktorwerkstatt neben dem bunt bemalten Holzbogen, der den Anfang der langen und breiten Hauptstraße markierte. Das zweigeschossige Schulgebäude stand auf einem sandigen Grundstück gegenüber der Traktorwerkstatt, und der Fußballplatz der Schule diente auch als Hubschrauberlandeplatz, wie der aufgemalte große, weiße Kreis in der Mitte verriet. Am Ortseingang musste Martin abbremsen, weil sich dort offene Laster und Männer zu Fuß drängten, die alle nur ein Ziel zu haben schienen: die orthodoxe Kirche, die an einem Feldweg lag, der von der Hauptstraße abging und durch die Feuchtwiesen zum morastigen Ufer der Memel führte.
    Martin parkte den Wagen vor einer Bäckerei, an deren Tür ein Schild verkündete, dass der Laden aufgrund der katholischen Drohungen, den heiligen Gedymin zu »befreien«, heute nicht geöffnet habe. Dann mischte Martin sich unter die Menschen. Er hielt einen Jugendlichen am Arm fest. » Gdye shenschtschini? « , fragte er. »Wo sind die Frauen?«
    »Susowka ist frauenfrei«, erwiderte der Junge mit einem breiten Grinsen und eilte den anderen hinterher.
    Die Bauern, die untereinander scherzten, dass sie Katholikenschädel spalten und mit Katholikenblut den orthodoxen Boden tränken würden, nahmen von dem Fremden in ihrer Mitte kaum Notiz. Entlang des Flussufers wurden Dutzende Ruderboote an den wackeligen Holzstegen vertäut, und Gruppen von Männern stiegen aus und machten sich auf den Weg zur Kirche. Eine Feuerwehrkapelle – die Männer in kniehohen Stiefeln und roten Parkas – schmetterte in einem eisernen Pavillon schmissige Militärmelodien. Kurz vor der Kirche holte Martin seinen Presseausweis hervor und rief, während er ihn sich hoch über den Kopf hielt, er

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