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Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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heranzuwinken, die auf der Suche nach Kunden waren, welche sich nicht von den Fahrern der regulären Taxis ausnehmen lassen wollten. Im Nu hielt vor ihm ein verbeulter Sil, und das Beifahrerfenster senkte sich.
    » Kuda « , fragte der Fahrer, ein älterer, bebrillter Herr, der eine schmale Krawatte und ein kariertes Sakko mit breitem Revers trug.
    »Sprechen Sie meine Sprache?«, fragte Martin.
    » Njet, njet « , beteuerte der Fahrer, um sich dann aber einwandfrei verständlich zu machen. »Wohin wollen Sie?«, fragte er.
    »In ein Dorf nicht weit von Moskau, Prigorodnaja. Kennen Sie das?«
    Der Fahrer nickte. »Jeder über fünfzig weiß, wo Prigorodnaja ist. Waren Sie schon mal dort?«
    »Nein. Noch nie.«
    »Na, ist nicht schwierig zu finden. Liegt an der Straße von Moskau nach St. Petersburg. Große Tiere hatten da früher eine Datscha, aber die sind längst unter der Erde. Jetzt leben in Prigorodnaja nur noch kleine Tiere.«
    »So wie ich«, sagte Martin mit einem müden Grinsen. »Wie viel?«
    »Hin und zurück hundert Dollar, die Hälfte jetzt, die andere Hälfte, wenn Sie nach Moskau zurückwollen.«
    Martin nahm auf dem Beifahrersitz Platz und holte zwei Zwanziger und einen Zehner hervor – so wie Dante Pippen die alawitischen Prostituierte in Beirut einige Legenden früher bezahlt hatte. Dann warf er sich noch ein Aspirin gegen den dumpfen Schmerz im Brustkorb ein und sah zu, wie der Fahrer den Sil durch den dichten Verkehr Richtung Moskau steuerte.
    Nach einer Weile sagte Martin: »Sind Sie nicht schon ein wenig alt für den Job?«
    »Ich bekomme nur eine magere Rente«, erklärte der Fahrer. »Das Auto gehört dem jüngsten Sohn meiner ersten Frau, er war mein Stiefsohn vor der Scheidung. Einer dieser schlauen Kapitalisten, die Privatisierungscoupons, die an die Bevölkerung verteilt wurden, aufgekauft haben, um sie dann mit Gewinn an die neuen russischen Mafiosi weiterzuverkaufen. So konnte er sich einen Sil leisten. Er leiht ihn mir, wenn die sündhaft hohe Miete meiner inzwischen privatisierten Wohnung fällig ist.«
    »Was haben Sie beruflich gemacht?«
    Der Fahrer schielte kurz aus den Augenwinkeln zu seinem Passagier hinüber. »Ob Sie’s glauben oder nicht, ich war ein berühmter, sogar berüchtigter Schach-Großmeister – 1954 auf Platz dreiundzwanzig in der Sowjetunion, da war ich neunzehn und Komsomol-Champion, so hieß die kommunistische Jugendorganisation.«
    »Wieso berüchtigt?«
    »Mir wurde nachgesagt, Schach würde mich total verrückt machen. Die Kritiker, die das sagten, hatten keine Ahnung. Schach kann niemanden verrückt machen, wie ein Psychologe, der selbst Schach gespielt hat, einmal erklärt hat. Durch Schach bleiben verrückte Leute normal. Spielen Sie Schach?«
    »Früher mal. Inzwischen komme ich nicht mehr dazu.«
    »Dann haben Sie vielleicht mal von der Katowski-Eröffnung gehört?«
    »Tatsächlich, ja, kommt mir irgendwie bekannt vor.«
    »Das bin ich«, sagte der Fahrer begeistert. »Hippolit Katowski wie er leibt und lebt. Meine Eröffnung hat auf allen ausländischen Turnieren, bei denen ich dabei war, für Furore gesorgt – Belgrad, Paris, London, Mailand, einmal sogar in Miami, ein anderes Mal in Peking, als die chinesische Volksrepublik noch ein sozialistischer Verbündeter war und Mao Tse-tung ein Genosse.«
    Martin sah die Wehmut in den Augen des alten Mannes. »Und wie ging die Katowski-Eröffnung?«, fragte er.
    Katowski drückte wütend auf die Hupe, als sich ein Taxi vor ihn drängte. »Zu Sowjetzeiten wären solche Fahrer zur Baumwollernte nach Zentralasien geschickt worden. Russland ist nicht mehr Russland, seit die Kommunisten nicht mehr an der Macht sind. Ha! Wir haben die Freiheit gewonnen, um zu verhungern. Die Katowski-Eröffnung geht so: Man opfert einen vergifteten Bauern und positioniert beide Läufer auf der Damenseite, um die Diagonalen zu kontrollieren, während die Springer auf der Königsseite vorstoßen. Damit habe ich zwei Jahre lang jeden Gegner geschlagen, bis Bobby Fischer mich in Reykjavik besiegt hat. Er hat einfach den vergifteten Bauern ignoriert und auf der Damenseite rochiert, nachdem ich meine Läufer in Stellung gebracht hatte.«
    Katowski verstummte und spielte die Eröffnung im Kopf noch einmal durch, wobei sich seine Lippen bewegten. Martin unterbrach die Partie nicht. Der Sil passierte eine große Reklametafel für Marlboro und eine Metrostation, aus der Scharen von Arbeitern strömten. Müdigkeit überkam Martin (die Reise

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