Die kalte Legende
schaffte es gerade noch als einer der Letzten über den Fluss, denn hinter mir bauten die Pioniere schon die Ponton-Brücken ab. Auf der anderen Seite wanderte ich von Lagerfeuer zu Lagerfeuer, vorbei an entmutigten Soldaten, die auf der Erde dösten, vorbei an Wachposten, die im Stehen schliefen. Ich muss Fieber bekommen haben, denn alles Weitere habe ich nur noch verschwommen in Erinnerung. Ich meine, mich an langen Kolonnen von Soldaten zu erinnern, Jammergestalten, die sich zurück nach Washington schleppten, an Maultierkarren, auf denen sich die Verwundeten stapelten, an Tote, die notdürftig in flachen Gräbern begraben wurden. Als ich wach wurde – ich weiß nicht, wie viele Tage später –, lag ich auf einer mit getrocknetem Blut besudelten Pritsche in einem Feldlazarett. Die Ärzte sagten, ich würde an Hypochondrie leiden, was Sie in Ihrer Sparte heute Depression nennen. Ein Mann mit einem freundlichen Gesicht und einem verschmutzten Hemd, das am Kragen offen stand, rieb mir Brust und Hals mit Essig ein, um das Fieber zu senken. Wir kamen ins Gespräch. Er stellte sich mir als Walter vor. Erst später habe ich erfahren, dass er der berühmte Brooklyner Dichter Whitman war, der die Lazarette nach seinem in der Schlacht verwundeten Bruder George absuchte. Durch Zufall hatte er ihn in dem Zelt gefunden, in dem ich lag. Als ich mich wieder etwas kräftiger fühlte, legte Walter mir eines Morgens einen Arm um die Taille und half mir nach draußen. Wir setzten uns in die Sonne, den Rücken an einen Stapel frisch gezimmerte Kiefernsärge gelehnt. Ich weiß noch, dass Walter den Berg amputierter Gliedmaßen hinter dem Zelt anstarrte. Nach einer Weile kamen Sanitäter mit drei Tragen, auf denen Tote lagen, aus dem Zelt und stellten sie in der Nähe ab. Die Toten waren zugedeckt, und unter der Decke schauten die zusammengehefteten Spitzen ihrer Strümpfe hervor. Walter stand auf und ging neben einer der Tragen in die Hocke. Er hob die Decke hoch und blickte sehr lange in das tote Gesicht eines Jungen. Schließlich setzte er sich wieder neben mich, nahm ein Notizbuch aus der Innentasche seiner Jacke, leckte einen Bleistiftstummel an und fing an zu schreiben. Als er fertig war, fragte ich ihn, was er geschrieben habe, und er las es mir vor. Die Worte habe ich bis heute nicht vergessen.« Lincoln schloss die Augen – um die Tränen zu unterdrücken (so Dr. Trefflers Eindruck) –, während er Walter Whitmans Zeilen zitierte: » Anblick am Morgen – im Lager vor dem Lazarettzelt auf Tragen (liegen drei Tote) über jeden eine Decke gebreitet – ich hebe eine an und schaue in das Gesicht des jungen Mannes, ruhig und gelb – wie seltsam! (junger Mann: Ich glaube dein Gesicht ist das Gesicht meines toten Christus!) «
Lincoln war jede Arroganz abhanden gekommen, als er Dr. Treffler ansah und sagte: »Weiter weiß ich nicht.«
»Ich glaube Ihnen, Lincoln. Sie waren wirklich bei der Schlacht von Fredericksburg dabei.« Als er bloß da saß, das Kinn auf die Brust gesunken, und ungleichmäßig atmete, sagte sie: »Shalimar.«
»Was?«
»So heißt mein Parfüm. Shalimar.«
1994: BERNICE TREFFLER VERLIERT EINEN PATIENTEN
Dr. Treffler schritt langsam an der Statue von Nathan Hale vorbei, die vor dem CIA-Hauptquartier in Langley, Virginia, stand, und studierte das Gesicht des jungen Kolonistenspions aus verschiedenen Blickwinkeln. Sie überlegte, was wohl in seinem Kopf vorgegangen sein mochte, als er zur Hinrichtung geführt wurde. Wahrscheinlich gar nichts, dachte sie, vielleicht war er von dem Kloß in seinem Hals, den man Angst nennt, zu abgelenkt, um klar denken zu können. Sie hatte vergessen, ob Nathan Hale je den Elefanten gesehen hatte (obwohl dieser Ausdruck vermutlich erst im Bürgerkrieg Verbreitung fand), bevor er sich hinter die britischen Linien auf der Insel Manhattan schlich. Sie fragte sich, ob seine Henker ihm auch eine Zigarette zwischen die Lippen geklemmt hatten, bevor sie ihn auf der Post Road, der heutigen Third Avenue in Manhattan, aufhängten. Das ist Tradition, hatte der Offizier mit den Krücken zu Lincoln Dittmann gesagt. Der zum Tode Verurteilte hat Anspruch auf eine letzte Zigarette.
Ein käsebleicher junger Mann mit einem Plastikausweis an der Brusttasche seines Dreiteilers trat zu ihr. »Er war der Erste, der für unser Land spioniert hat«, sagte er, während er hinauf zu Nathans Händen blickte, die mit einem Strick auf dem Rücken gefesselt waren. »Sie müssen Bernice Treffler
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