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Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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von Hrodna nach Moskau hatte zwei Tage und zwei Nächte gedauert), und er schloss für eine Sekunde die Augen, woraus zwanzig Minuten wurden. Als er sie wieder aufschlug, war der Sil auf der Ringstraße. Riesige Kräne ragten empor, Hochhäuser mit Glasfassaden schossen auf beiden Seiten der breiten Schnellstraße in die Höhe. An einer Baustelle verlangsamte sich der Verkehr kurz, doch dann ging es wieder zügig weiter. Schließlich bogen sie auf die Landstraße nach St. Petersburg ab.
    »Bis Prigorodnaja ist es nicht mehr weit«, sagte Katowski. »Ich war einer von Boris Spasskis Beratern, als er 1972 gegen Fischer verlor. Hätte er doch bloß auf mich gehört, er hätte haushoch gegen Fischer gewonnen, weil der sich einen Patzer nach dem anderen geleistet hat. Ha! Es heißt, eine Schachpartie gewinnt derjenige, der den vorletzten Fehler macht. So – da kommt schon die Abfahrt nach Prigorodnaja. Ach, wie einem doch die Zeit durch die Finger rinnt, wenn man nicht die Faust ballt – ich kann mich noch an die Straße erinnern, als sie nicht asphaltiert war. 1952 und zum Teil auch noch 1953 wurde ich jeden Sonntag von einem Chauffeur zur Datscha von Lawrenti Pawlowitsch Berija gebracht, um seiner Frau Schach beizubringen. Mit dem Unterricht war es zu Ende, als Genosse Stalin starb und Berija, der hinter Stalins Rücken die Gulags errichtet und die loyalsten Genossen liquidiert hatte, hingerichtet wurde.«
    Als Katowski die kleine Straße hinunterfuhr, vorbei an einem Schild mit der Aufschrift »Prigorodnaja: 7 Kilometer«, fing Martins angebrochene Rippe wieder an zu schmerzen. Seltsamerweise fühlte sich der Schmerz irgendwie … vertraut an.
    Aber wie in Gottes Namen konnten Schmerzen vertraut sein?
    Martin spürte ein Pulsieren in den Schläfen, stets das Vorzeichen von rasenden Kopfschmerzen, und er massierte sich die Stirn. Er merkte, wie er in andere Rollen hineinglitt und wieder heraus. Er hörte Lincoln Dittmann träge murmelnd aus einem Gedicht rezitieren.
    … die stillen Kanonen, glänzend wie Gold, rumpeln sacht über Steine. Stille Kanonen, bald ist das Schweigen vorbei, bald seid ihr bereit, das blut’ge Geschoß zu beginnen.
    Und die Stimme des Dichters mit dem schmutzigen Hemd, das am Kragen offen stand.
    Anblick am Morgen – im Lager vor dem Lazarettzelt auf Tragen (liegen drei Tote) über jeden eine Decke gebreitet …
    Andere Stimmen, kaum hörbar, raunten in dem Hirnlappen, wo das Gedächtnis sitzt. Nach und nach verstand er Gesprächsfetzen.
    Ladys and Gentlemen … Martin Odums ursprüngliche Biographie angesehen.
    Seine Mutter war …
    … sie war Polin … nach dem Zweiten … immigriert …
    Das ist doch was …
    … direkt vor unserer Nase …
    Der Fahrer des Sil warf seinem Passagier einen Blick zu. »Sehen Sie die Schornsteine da hinten, die den schmutzigen weißen Rauch ausstoßen?«, sagte er.
    »Mm-hm.«
    »Das ist eine Papierfabrik. Die wurde natürlich erst nach Berijas Zeit gebaut, klar, der hätte das nie erlaubt. Jetzt wissen Sie, warum hier heutzutage nur noch kleine Tiere leben – es stinkt nämlich tagtäglich rund um die Uhr nach Schwefel. Die Bauern hier behaupten, man würde sich dran gewöhnen und es irgendwann sogar unangenehm finden, keine stinkige Luft einzuatmen.«
    Sogar der Schwefelgeruch, der Martin in der Nase brannte, kam ihm vertraut vor.
    »Genosse Berija hat Schach gespielt«, erinnerte sich der Fahrer. »Schlecht. So schlecht, dass ich mich ganz schön geschickt anstellen musste, um gegen ihn zu verlieren.«
    … Lincoln Dittmann war im Dreiländer … hörte, wie ein alter Losverkäufer mit einer Prostituierten Polnisch sprach … sie einigermaßen verstehen konnte …
    … seine Mutter ihm als Kind Gutenachtgeschichten auf Polnisch …
    Martin fiel das Atmen schwer. Ihm war, als wären ihm Erinnerungen im Hals stecken geblieben und raubten ihm die Luft, als müsste er sie erst ausspeien, bevor er sein Leben fortsetzen konnte.
    Sie kamen an einer verlassenen Zollstation vorbei, mit einem verblichenen roten Stern über der Tür. Gegenüber und unterhalb einer flachen Böschung schlängelte sich ein Fluss. Er führte offenbar Hochwasser, denn der Ufersaum auf beiden Seiten hatte sich in seichtes Sumpfland verwandelt, wo sich lange Grashalme in der Strömung wiegten.
    Martin hörte, wie eine Stimme, die er als seine eigene erkannte, laut sagte: »Der Fluss heißt Lesnia, nach dem dichten Wald, durch den er sich auf seinem Weg vorbei an Prigorodnaja

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