Die kalte Legende
erwischen. Wir haben einen richtigen Wettbewerb daraus gemacht – wer am Abend die meisten Motten erledigt hatte, war Sieger. Ah«, fügte die Frau mit einem langen Seufzer hinzu, »das alles ist Schnee von gestern. Samat und Tsvetan sind inzwischen beide von hier weggegangen.«
»Und wohin?«, fragte Martin leise.
Die alte Frau lächelte traurig. »Sie sind in die Erde gegangen – sie haben in Löchern im gefrorenen Boden überwintert.«
»Und in welchem Land sind diese Löcher im Boden?«
Sie blickte zum Fenster hinaus. »Ich habe am Konservatorium Klavier studiert, als mein Mann, Samats Vater, zu Unrecht angeklagt wurde, ein Volksfeind zu sein, und nach Sibirien geschickt wurde.«
Sie hielt die Finger hoch und betrachtete sie. Martin sah, dass die Handflächen vor Trockenheit rissig waren und die Nägel abgebrochen und schmutzig. »Mein Mann – im Moment weiß ich nicht mehr, wie er hieß, aber es fällt mir bestimmt wieder ein – mein Mann war Arzt. Er ist nie aus Sibirien zurückgekehrt, aber Tsvetan hat nach dem Tod von Koba, den du als Stalin kennst, nachgeforscht und von Gefangenen, die zurückgekehrt sind, erfahren, dass sein Bruder in einem Lager für Schwerverbrecher die Gefangenen behandelt hat, die ihn mit trockenen Brotresten bezahlt haben.«
»Sind Sie und Samat schikaniert worden, als Ihr Mann verhaftet wurde?«
»Ich wurde aus der Partei ausgeschlossen. Dann haben sie mir das Stipendium gestrichen und mich vom Konservatorium geworfen, aber nicht, weil mein Mann verhaftet worden war – er und Tsvetan waren Armenier, weißt du, und die Armenier trugen ihre Verhaftungen, wie andere Orden an der Brust tragen.«
»Warum durften Sie denn dann nicht weiter studieren?«
»Mein lieber Junge, natürlich weil sie herausgefunden hatten, dass ich Israelitin war. Meine Eltern hatten mir extra einen christlichen Vornamen gegeben, Kristyna, damit die Partei keinen Verdacht schöpfen würde, dass ich jüdischer Abstammung war, aber am Ende hat der Trick nicht funktioniert.«
»Wussten Sie, dass Samat nach Israel gegangen ist?«
»Das war meine Idee – er musste auswandern, weil auf den Straßen von Moskau der Bandenkrieg tobte. Ich habe gesagt, es könnte gut sein, dass Israel ihn aufnimmt, wenn er beweisen kann, dass seine Mutter Jüdin ist.«
»Wovon haben Sie gelebt, nachdem Ihnen das Stipendium gestrichen worden war?«
»Während Tsvetan im Gulag war, hat er dafür gesorgt, dass seine Geschäftspartner sich um uns kümmerten. Sobald er wieder da war, hat er uns persönlich unter seine Fittiche genommen. Er hat Samat überredet, sich im Forstinstitut einzuschreiben, obwohl mir schleierhaft war, warum mein Sohn Forstwirtschaft studieren sollte. Und dann hat er ihn auf die Wirtschaftsakademie der Staatlichen Planungsbehörde geschickt. Samat hat mir nie erzählt, was er danach gemacht hat, aber es muss irgendwas Wichtiges gewesen sein, denn er kam immer in einer glänzenden Limousine mit Chauffeur. Wer hätte das gedacht – dass mein Sohn mal von einem Chauffeur kutschiert wird?«
Instinktiv sagte Martin: »Sie kommen mir gar nicht verrückt vor.«
Kristyna blickte verblüfft. »Wer hat dir denn gesagt, ich wäre es?«
»Ein Bauer aus dem Dorf hat gesagt, Sie seien eine Verrückte.«
Kristynas Miene verfinsterte sich. »Ich bin verrückt, wenn es nötig ist«, murmelte sie. »Damit schütze ich mich vor dem Leben und vor dem Schicksal. Ich wickele mich in den Wahnsinn ein, wie ein Bauer sich im Winter den Schaffellmantel um die Schultern legt. Wenn man für verrückt gehalten wird, kann man sagen, was man will, und niemand, nicht mal die Partei, nimmt es einem übel.«
»Sie sind nicht die, die Sie zu sein scheinen.«
»Und du, mein lieber, lieber Josef, bist du der, der du zu sein scheinst?«
»Ich verstehe nicht ganz, wie Sie das meinen?«
»Samat hat dich mit hergebracht – er hat gesagt, ihr wärt Studienfreunde. Ich habe dich an Stelle des Sohnes aufgenommen, den ich bei der Geburt verloren habe. Der Oligarch hat dich wie einen seiner Leute begrüßt, und nach einigen Monaten gehörtest du für ihn zu seiner Familie. Und du hast uns alle verraten. Du hast Samat verraten, mich, Tsvetan. Warum?«
»Ich kann mich … an nichts davon erinnern.«
Kristyna blickte Martin forschend an. »Schützt dich deine Gedächtnislücke vor dem Leben und dem Schicksal, Josef?«
»Schön wär’s … ich laufe so schnell ich kann, aber das Leben und das Schicksal sind immer direkt hinter mir und
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