Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
Vom Netzwerk:
holen mich allmählich ein.«
    Tränen quollen unter Kristynas fest geschlossenen Lidern hervor.
    »Lieber Josef, genauso geht es mir auch.«
    Martin verabschiedete sich von ihr und trat aus dem Haus. Die Bauern waren dem Priester längst wieder zurück zur Kirche gefolgt, um für die Seele von Josef Kafkor zu beten. Martin entriegelte gerade das Gartentor, als er Samats Mutter von einem Fenster aus rufen hörte.
    »Er hieß Surab«, rief sie.
    Martin drehte sich um. »Wer hieß Surab?«
    »Samats Vater, mein Mann, sein Vorname war Surab. Surab Ugor-Shilow.«
    Martin lächelte und nickte. Kristyna lächelte ebenfalls und winkte zum Abschied.
    Als er zurück zu der asphaltierten Straße kam, sah Martin, dass der Sil ein Stück abseits im Schatten eines Birkenwäldchens stand. Katowksi hatte sich die Schuhe ausgezogen und die Hosenbeine hochgerollt und saß unten am Ufer der Lesnia. Seine Füße baumelten im kühlen Wasser. »Sie kennen nicht zufällig die vierte Partie Aljechin gegen Capablanca, 1927?«, rief der Fahrer, während er die Böschung hochgeklettert kam. »Ich habe sie eben noch mal im Kopf durchgespielt – da gab es ein Damenopfer, das noch faszinierender war als das berühmte Damenopfer, mit dem der dreizehnjährige Bobby Fischer im siebzehnten Zug seiner Grünfeld-Verteidigung gegen Großmeister Byrne die Schachwelt verblüfft hat.«
    »Nein«, sagte Martin, als Katowksi sich auf die Erde setzte, um seine Schuhe anzuziehen. »Die Partie hab ich nie gespielt.«
    »Rate ich Ihnen auch dringend von ab, Genosse Besucher. Damenopfer sind nichts für Leute mit schwachem Herzen. Ich habe sie ein einziges Mal ausprobiert. Da war ich fünfzehn und spielte gegen Umanski, den Schachgroßmeister des Staates. Nach seinem sechzehnten Zug studierte ich zwanzig Minuten lang das Brett und gab dann auf. Ich hätte die Niederlage nicht mehr abwenden können. Großmeister Umanski akzeptierte den Sieg taktvoll. Später erfuhr ich, dass er die Partie noch monatelang nachgespielt hatte. Er konnte sich einfach nicht erklären, warum ich aufgegeben hatte. Für mich war es so deutlich sichtbar gewesen wie die Nase in Ihrem Gesicht. Ich hätte in vier Zügen einen Bauern weniger gehabt. Mein Läufer wäre nach sieben Zügen gefesselt gewesen, und nach neun wäre die Turmreihe offen gewesen, mit seiner Dame und zwei Türmen in Angriffsposition. Ich hatte erkannt, dass ich den Staat nicht schlagen konnte. Wenn ich es noch mal zu tun hätte«, fügte der Fahrer mit einem Seufzer hinzu, »würde ich gar nicht erst gegen den Staat antreten.«
     
    Hundert Meter vor der Stelle, wo die Straße von Prigorodnaja in die vierspurige Straße von Moskau nach St. Petersburg mündete, hatten Soldaten in Tarnuniformen eine Verkehrssperre errichtet. Lederstreifen mit Metallspitzen waren so auf der Fahrbahn ausgelegt worden, dass die Autos sich im Schritttempo und im Slalom zwischen ihnen hindurchmanövrieren mussten. Als Katowskis Sil auf Höhe des geparkten Lieferwagens mit dem DHL-Logo an der Seite war, winkten ihn milchgesichtige Soldaten mit Maschinenpistolen von der Straße. Ein kräftiger Mann in einem zerknautschten Anzug riss die Beifahrertür auf, packte Martin an den Handgelenken und zog ihn so unsanft aus dem Wagen, dass seine angeknackste Rippe ihm einen Stromstoß durch die Brust jagte. Ein zweiter Mann in Zivil drohte dem Fahrer, der hinter dem Lenkrad hockte, mit einem Finger. »Sie kennen die Regeln, Lifschitz – Sie könnten sechs Monate aufgebrummt kriegen, wenn Sie ohne Lizenz ein Taxi betreiben. Ich vergesse vielleicht, Sie festzunehmen, wenn Sie mich davon überzeugen können, dass Sie heute niemanden nach Prigorodnaja gebracht haben.«
    »Wie käme ich dazu, jemanden nach Prigorodnaja zu bringen? Ich weiß ja nicht mal, wo das ist.«
    Martin blickte nach links über die Schulter und fragte: »Wieso nennen Sie ihn Lifschitz?«
    Der kräftige Mann in Zivil packte Martin mit einer großen Hand hinten im Nacken, mit der anderen am Oberarm und bugsierte ihn zum Laderaum des DHL-Wagens. »Wir nennen ihn Lifschitz, weil er so heißt.«
    »Mir hat er gesagt, er heißt Katowski.«
    Der Mann schnaubte. »Katowski, der Schachgroßmeister! Der ist vor zehn Jahren gestorben. Lifschitz, der Taxifahrer ohne Lizenz, war im Finale des Moskauer Halmaturniers vor sechs Jahren. Schachgroßmeister – das ist neu in Lifschitz’ Repertoire.«
    Kurze Zeit später hockte Martin hinten im DHL-Wagen auf dem dreckigen Boden, die Beine vor sich

Weitere Kostenlose Bücher