Die kalte Legende
Heftzwecke heraus und drehte die Postkarte um. Sie war nicht datiert, der vorgedruckte Text zu dem Foto war mit einem Messer abgekratzt worden und der Poststempel war zum Teil unleserlich. Er lautete »… fast, New York«.
»Liebste Mama«, hatte jemand auf Russisch geschrieben, »mir geht es gut im wunderschönen Amerika, mach dir um mich keine Sorgen, sing einfach weiter deine Lieder, wenn du im Garten das Unkraut jätest, denn so sehe ich dich vor meinem inneren Auge.« Darunter stand: »In Liebe S.«
Die alte Frau rief aus der Küche: »Josef, mein Kind, wo bist du denn? Komm, trink deinen Tee.«
Martin steckte die Postkarte in die Tasche und ging zurück in die Küche, wo die alte Frau eine zerrissene Schürze als Topflappen benutzte, um kochendes Wasser in zwei Tassen zu füllen. Es war ein Aufguss aus Möhrenschalen, wie sich herausstellte, weil Tee für sie zu teuer geworden war. Sie setzte sich auf einen dreibeinigen Melkschemel und überließ den einzigen Stuhl im Raum ihrem Besucher. Martin rückte ihn an den Resopaltisch und setzte sich ihr gegenüber. Die Frau hielt beide Hände fest um den gesprungenen Becher gelegt, während sie Erinnerungen aus dem Gedächtnis hervorkramte und dabei sachte den Kopf hin und her wiegte. Ihre Augen huschten von einem Gegenstand zum anderen, wie ein Schmetterling auf der Suche nach einem Blatt, auf dem er sich niederlassen kann. »Ich erinnere mich an den Tag, als Samat dich aus Moskau mitgebracht hat, Josef. Es war ein Dienstag. Ah, da staunst du. Ich weiß das deshalb so genau, weil dienstags immer die Frau aus dem Dorf zum Wäschewaschen kam – sie hatte eine Heidenangst vor der elektrischen Waschmaschine, die Samat im GUM in Moskau gekauft hatte, und hat lieber alles an einer flachen Stelle am Flussufer gewaschen.Du und Samat, ihr habt zusammen studiert, ihr wart Zimmergenossen irgendwo in einem Studentenwohnheim, das hat er gesagt, als er dich hier vorgestellt hat. Später hat Tsvetan dich beiseite genommen und dir alle möglichen Fragen gestellt, die ich nicht verstanden habe – was in aller Welt ist eine Exfiltration? Erinnerst du dich an den Oligarchen, Josef? Er war ein sehr zorniger Mann.«
Martin meinte, die wütende Stimme eines älteren Mannes hören zu können, der gegen das Regime wetterte, während er auf Aluminiumkrücken vor eingeschüchterten Leuten hin und her wankte, die sich nicht trauten, ihn zu unterbrechen. Mein Großvater wurde 1929 während der Kollektivierung hingerichtet, mein Vater 1933 erschossen, beim Unkrautjäten auf einem Feld, beide wurden von einem Wandergericht als Kulaken schuldig befunden. Wissen Sie, was Kulaken waren, Josef? Für den sowjetischen Abschaum waren das die so genannten reichen Bauern, die Stalins Programm sabotieren wollten, die Landwirtschaf t zu kollektivieren und die Bauern auf Kolchosen zu treiben. Von wegen reich! Kulaken waren Bauern, die ein einziges Paar Lederschuhe besaßen, und die hielten ein Leben lang, weil sie nur in der Kirche getragen wurden. Mein Großvater und auch mein Vater trugen auf dem Weg zur Kirche und wieder nach Hause Schuhe aus geflochtenem Birkenreisig, genannt Lapti, und sie zogen die Lederschuhe erst an, wenn sie die Schwelle überschritten. Weil sie ein Paar Lederschuhe besaßen, wurden mein Großvater und mein Vater als Feinde des Volkes gebrandmarkt und erschossen. Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum ich einen Ein-Mann-Krieg gegen Mütterchen Russland führe. Ich werde den Sowjets oder ihren Erben niemals verzeihen …
Martin blickte über den Tisch auf die alte Frau, die ihren Aufguss trank. »Ich erinnere mich, dass er etwas über Lederschuhe gesagt hat«, sagte er.
Das Gesicht der Frau leuchtete auf. »Die Geschichte hat er jedem erzählt, der das erste Mal in der Datscha war – wie sein Großvater und Vater von den Sowjets hingerichtet wurden, weil sie Lederschuhe besaßen. Sie könnte stimmen, keine Frage. Aber vielleicht war sie auch erfunden. Wer die Stalinzeit mitgemacht hat, wird sie nicht mehr los. Wer danach geboren wurde, kann sich kein richtiges Bild von ihr machen. Du bist zu jung, um das größte Geheimnis des sowjetischen Staates zu kennen – warum alle Stalin unentwegt beklatscht haben. Ich werde es dir verraten: Die Wände in den neuen Mietshäusern waren mit Filz isoliert, deshalb waren die Zimmer zwar mollig warm, aber es wimmelte nur so von Kleidermotten. Deshalb waren wir ständig damit beschäftigt, in die Hände zu klatschen, um sie im Flug zu
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