Die kalte Legende
Kafkor ist ein polnischer Name. Wir vom Föderalen Sicherheitsdienst Russlands suchen nach Ihnen, seit wir das erste Mal auf Ihren Namen aufmerksam wurden. Sie sind der Kafkor, Josef, der mit Samat Ugor-Shilow und seinem Onkel Tsvetan Ugor-Shilow, besser bekannt als der Oligarch, in Verbindung stand.«
»Ist das eine Frage?«, fragte Martin.
»Eine sachliche Feststellung«, erwiderte der Mann ruhig. »Unseren Unterlagen nach haben Sie Samat Ugor-Shilow kennen gelernt, kurz nachdem Sie in Moskau im polnischen Fremdenverkehrsbüro angefangen hatten. Samat Ugor-Shilow hat Sie mit seinem Onkel in Prigorodnaja bekannt gemacht, der dort die ehemalige Datscha von Berija bewohnte. In den vier Monaten seit Ihrem ersten Besuch in Prigorodnaja waren Sie ein häufiger Gast in der Datscha, manchmal blieben sie eine ganze Woche, manchmal nur ein verlängertes Wochenende. Der angebliche Grund für Ihre Besuche war der, dass Sie Samats Mutter Polnischunterricht erteilten. Ihre Vorgesetzten im polnischen Fremdenverkehrsbüro haben Ihre wiederholte Abwesenheit nicht moniert, woraus wir schlossen, dass Ihre Arbeit dort eine Tarnung war. Sie waren offenbar polnischer Staatsangehöriger, aber wir hatten die Vermutung, dass Sie längere Zeit im Ausland gelebt hatten, weil unsere polnischen Muttersprachler, die sich Bandaufnahmen von Ihren Gesprächen mit Kollegen in Moskau anhörten, leichte Grammatikfehler und ein veraltetes Vokabular feststellten. Damals, und ich nehme an, das ist heute noch so, sprachen Sie Russisch mit einem deutlichen polnischen Akzent, was darauf hindeutete, dass Sie Russisch von polnischen Lehrern in Polen oder im Ausland gelernt hatten. Also, gospodin Kafkor, haben Sie für den polnischen Geheimdienst gearbeitet oder, mit oder ohne Kollaboration der Polen, für einen westlichen?«
Martin sagte: »Sie verwechseln mich. Ich schwöre, ich kann mich an nichts von dem erinnern, was Sie da sagen.«
Der Mann öffnete eine Akte mit einem roten Querstreifen auf dem Deckel und blätterte einen dicken Stoß Papiere durch. Nach einem Moment hob er die Augen. »Irgendwann hat sich Ihr Verhältnis zu Samat und seinem Onkel verschlechtert. Sie sind für sechs Wochen in der Versenkung verschwunden. Als Sie wieder auftauchten, waren Sie nicht wiederzuerkennen. Sie waren ausgehungert und offenbar gefoltert worden. Eines Morgens brachten zwei Leibwächter des Oligarchen Sie mit einem Ruderboot über die Lesnia und stießen Sie die Böschung hoch auf eine Straße, die gerade asphaltiert wurde. Sie mussten sich vor ein Loch in der Straße knien, das am Tag zuvor von einem Bagger ausgehoben worden war. Sie waren splitternackt. Man hatte Ihnen eine große Sicherheitsnadel durch die Haut zwischen den Schulterblättern gestochen und daran ein Stück Pappe befestigt, auf dem die Worte Spion Kafkor standen. Und dann wurden Sie vor den Augen von rund vierzig Straßenarbeitern in dem Loch lebendig begraben. Dicke Bohlenbretter wurden über Ihnen in die Straßendecke eingefügt und dann mit einer Teerschicht abgedeckt.«
Martin hatte das verstörende Gefühl, dass ihm ein Film erzählt wurde, den er gesehen und vergessen hatte. »Noch etwas Wasser«, murmelte er.
Ein weiteres Glas Wasser wurde vor ihn hingestellt, und er trank es aus. Mit heiserer Flüsterstimme fragte er: »Woher wissen Sie das alles?«
Der Mann drehte die Lampe so, dass das Licht auf die Schreibtischplatte fiel. Während er fünf Fotos nebeneinander hinlegte, sah Martin auch Kafkors kanadischen Pass dort liegen, einen Packen Geldscheine – amerikanische Dollars und britische Pfund –, die Ansichtskarte, die er von der Tür in der Datscha in Prigorodnaja mitgenommen hatte, und seine Schnürsenkel. Er zog seinen Stuhl näher an den Schreibtisch und beugte sich über die Fotos. Sie waren alle aus einiger Entfernung aufgenommen und stark vergrößert worden, weshalb sie grobkörnig und leicht unscharf waren. Auf dem ersten Bild war ein nackter ausgemergelter Mann mit verfilztem Bart zu sehen, der vorsichtig aus einem Fluss ans Ufer stieg und so etwas wie eine Dornenkrone auf dem Kopf trug. Hinter ihm kamen zwei Aufpasser in gestreiften Hemden. Auf dem nächsten Foto kniete der Mann am Rand eines Lochs und blickte über die Schulter, die Augen hohl vor Entsetzen. Die dritte Aufnahme zeigte einen dünnen Mann mit einem langen, verkniffenen Gesicht, der ein Jackett wie ein Cape über die Schultern trug und dem knienden Mann eine Zigarette anbot. Auf dem vierten Foto war zu
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