Die kalte Legende
winzige Kreuz weiter hochhielt, in gebührendem Abstand.
Als Martin den Holzzaun der Datscha des Oligarchen erreichte, meinte er, eine Frau leise singen zu hören. Er öffnete das Tor und ging um das Haus herum, wo er vorsichtig durch einen gepflegten Garten mit Gemüse- und Sonnenblumenbeeten ging, bis er entdeckte, woher der Gesang kam. Eine alte, gebrechliche Frau in einem schäbigen Unterhemd und mit nackten Füßen füllte eine Plastikkanne mit Wasser aus einem Regenfass. Langes, dünnes, weißes Haar fiel ihr in das blasse Gesicht, dessen Haut sich straff über den Wangenknochen spannte, und als sie Martin erblickte, strich sie die Strähnen beiseite, um ihn besser sehen zu können. »Tsvetan hatte wie immer Recht«, sagte sie. »Du hast den Winter besser überleben können, nachdem das Loch mit Schnee bedeckt war, obwohl ich strikt dagegen war, dass sie dich mit leerem Magen begraben haben.«
»Sie wissen, wer ich bin?«, fragte Martin.
»Früher hast du nicht so dumme Fragen gestellt, Josef. Ich kenne dich so gut, wie ich meinen eigenen Sohn Samat kenne, so gut, wie ich seinen Vater kannte, der zu Stalins Zeit in Sibirien überwinterte und nie zurückkam. Seltsam, findest du nicht, wie stark unser aller Leben von Stalins launischer Brutalität bestimmt worden ist. Ich wusste, du würdest wiederkommen, lieber Josef. Aber warum erst nach so langer Zeit? Ich war sicher, du würdest gleich nach der ersten Schneeschmelze nach Prigorodnaja zurückkommen.« Die alte Frau stellte ihre Gießkanne ab, nahm Martins Hand und führte ihn durch den Garten zur hinteren Tür der Datscha. »Um diese Uhrzeit hast du immer gern Tee mit Honig getrunken. Du brauchst eine schöne heiße Tasse, um den Vormittag durchzustehen.«
Kristyna drückte eine Fliegengittertür auf, die schief in den Angeln hing, schlüpfte mit ihren schmutzigen Füßen in ein Paar Filzpantoffeln und schlurfte durch eine Reihe verlassener Räume in die Küche. Immer wieder schaute sie dabei über die Schulter, ob Martin ihr auch wirklich folgte. Mit beiden dünnen Armen bearbeitete sie eine Handpumpe, bis Wasser aus dem Zapfen strömte. Sie füllte einen Kessel und stellte ihn auf eine der verrosteten Platten eines Elektrokochers, der auf einem kaputten Gasherd stand. »Ich hol schnell deinen Lieblingshonig aus dem Keller«, sagte sie. »Lieber Josef, nicht wieder verschwinden. Versprichst du mir das?« Fast, als fürchtete sie, ein Nein zu hören, zog sie eine Luke im Boden hoch, sicherte sie mit einer Hundeleine und verschwand eine Stiege hinunter.
Martin wanderte durch die leeren Räume im Erdgeschoss, in denen seine Schritte von den nackten Wänden hallten. Durch die schwefelverschmierten Fensterscheiben hindurch konnte er den Priester und seine Schar von Gläubigen sehen, die am Zaun standen und sich unterhielten. Das große Wohnzimmer mit einem Natursteinkamin führte in ein Arbeitszimmer voller leerer Bücherregale. Daran schloss sich ein kleiner Raum an, in dem eine Feldlazarettpritsche neben einem Kamin stand, wo schon Papierfetzen und trockene Zweige darauf warteten, entzündet zu werden. Ein halbes Dutzend leere Parfümfläschchen standen auf dem Sims. Auf einer Holzkiste, die auf mehreren Seiten mit »Ugor-Shilow« und »Prigorodnaja« beschriftet war, lag ein kleiner Stoß säuberlich gefaltete Frauenkleidung. Etliche Ansichtskarten waren an die Tür geheftet, die zur Toilette führte. Martin ging zu der Tür und sah sich die Karten genauer an. Sie waren aus aller Welt geschickt worden. Eine zeigte den Dutyfreeshop am Pariser Flughafen Charles de Gaulle, eine andere die Klagemauer in Jerusalem, eine dritte eine Moldaubrücke in Prag, wieder eine den Buckingham Palace in London. Auf der obersten Postkarte an der Tür war eine Familie zu sehen, die eine asphaltierte Landstraße hinunterging, vorbei an zwei genau gleich aussehenden, dicht nebeneinander stehenden Farmhäusern. Auf der anderen Seite der Straße stand auf einer kleinen Anhöhe eine verwitterte Scheune; ein amerikanischer Adler aus Metall breitete auf der verzierten Wetterfahne auf dem Mansardendach seine Schwingen aus. Die Menschen auf der Karte trugen Kleidung, wie sie Farmer vor zweihundert Jahren vielleicht zur Kirche angezogen hatten – die Männer und Jungen schwarze Hose, schwarzes Jackett und Strohhut, die Frauen und Mädchen knöchellange Baumwollkleider, hohe Schnürschuhe und Hauben, die unter dem Kinn zugebunden waren.
Martin hebelte mit den Fingernägeln die
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