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Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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Augen.
    »Ich würde seine Augen überall erkennen, weil ich sie mir eingeprägt habe, als er mich gevögelt hat. Meine Schwester schlief nebenan, in der Nacht ihrer Heirat mit diesem Ungeheuer. Ich wollte ursprünglich drei Wochen in Qiryat Arba bleiben, aber ich bin nach zehn Tagen abgereist. Er ist jede Nacht in mein Bett gekommen …«
    »Und als du zwei Jahre später wieder da warst?«
    »Da habe ich ihn am ersten Tag beiseite genommen und gesagt, ich würde ihn umbringen, wenn er wieder in mein Bett kommen würde.«
    »Wie hat er reagiert?«
    »Er hat nur gelacht. Aber immerhin ist er nicht mehr ins Zimmer gekommen. Martin, du musst mir die Wahrheit sagen – ändert das irgendwas zwischen uns?«
    Er schüttelte den Kopf.
    Der Hauch eines Lächelns huschte über Stellas Lippen.

1997: MARTIN ODUM BEKOMMT DEN »GET«
    Martin und Stella hatten sich von Tsou Xing, dem Besitzer des Chinarestaurants unter dem Billardsalon auf der Albany Avenue, dessen alten Packard ausgeborgt und kamen nach Einbruch der Dunkelheit in Belfast an. Der pickelige Junge, der an der Tankstelle am Rande der Stadt arbeitete, zählte an ölverschmierten Fingern ab, was ihnen zur Auswahl stand: ein paar ganz passable Hotels, unterschiedlich teuer, diverse Motels entlang der Route 19 auf beiden Seiten der Stadt, unterschiedlich schäbig, einige Pensionen, wovon die beste der alten Mrs. Sayles gehörte und direkt am Genesee lag, einem rauschenden Fluss, der manche Gäste in den Schlaf lullte, andere dagegen kein Auge zu tun ließ.
    Sie fanden das Haus am Fluss dank eines Holzschildes mit der Aufschrift »Bed & Breakfast – Lelia Sayles«, das vom Ast einer alten Eiche hing. Da sie kein Gepäck hatten, musste Martin dreißig Dollar im Voraus zahlen, für ein Zimmer mit Ehebett, Bad auf dem Flur, und bitte gehen Sie barfuß, wenn Sie nachts ins Bad müssen, sonst wecken Sie die Gespenster, die unterm Dach schlafen. Sie aßen in einem Diner gegenüber der Stadtbibliothek auf der South Main Street und ließen sich anschließend ungemein viel Zeit mit ihrem Kaffee, weil beide versuchten, den Moment hinauszuzögern, ab dem es kein Zurück mehr gab. Als sie schließlich wieder in Mrs. Sayles Kieseinfahrt bogen, befand Martin, dass er dringend den Ölstand des Packard kontrollieren musste. »Ich bin genauso nervös wie du«, murmelte Stella, die seine Gedanken erriet, als er die Motorhaube öffnete. Sie ging weiter zum Haus, drehte sich dann vor der Tür noch einmal um. »Martin, sieh es doch einfach so«, sagte sie. »Wenn der Sex nicht so klappt, wie wir es gern hätten, können wir ja immer noch unsere erotische Telefonbeziehung weiterführen.«
    »Ich will Sex und dieerotische Telefonbeziehung«, erwiderte er.
    Stella legte den Kopf schief. »Na, dann«, sagte sie, und ein Lachen verjagte die Nervosität in ihren Augen, »solltest du vielleicht endlich aufhören, an dem blöden Motor rumzufummeln. Wir sind schließlich beide keine Jungfrauen mehr.«
     
    »Wie war’s?«, fragte Mrs. Sayles am nächsten Morgen, als sie Schälchen mit selbst gemachter Konfitüre auf den Frühstückstisch stellte.
    Martin fragte irritiert: »Wie war was?«
    » Es natürlich«, erwiderte Mrs. Sayles. »Du lieber Himmel, ich bin zwar über achtzig, aber weiß Gott noch nicht hirntot.«
    »Es war sehr schön, danke«, sagte Stella gelassen.
    »Entspannen Sie sich, mein Junge«, riet Mrs. Sayles, als sie bemerkte, dass Martin seine Scheibe Toast das zweite Mal mit Butter bestrich. »Dann läuft es auch besser im Bett.«
    In der Hoffnung, das Thema zu wechseln, holte Martin die Ansichtskarte hervor.
    »Mein Urururgroßvater, der hieß Dave Sanford, baute das erste Sägewerk am Ufer des Genesee«, erklärte Mrs. Sayles, während sie in ihrer Stricktasche nach der Lesebrille kramte. »Das war 1809. Dieses Haus da wurde 1829 mit Holz aus dem Sägewerk gebaut. Damals war Belfast noch winzig klein. Nichts als Wälder, so weit das Auge reichte, so sagt man. Als dann immer mehr Wälder abgeholzt wurden, verlegten sich die meisten auf Viehzucht. Die Käsefabrik White Creek, die hier in der Gegend jeder kennt, wurde 1872 gegründet, von meinem Urgroßvater –«
    Stella versuchte, das Gespräch auf die Amish-People zu lenken.
    »Und was ist mit den Menschen auf der Ansichtskarte?«
    »Ohne meine Brille ist das für mich nur ein verschwommener Klecks, liebes Kind. Hätte schwören können, dass ich sie in die Tasche getan hab. Na, wer sagt’s denn, da ist sie ja.«

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